Künstler gegen Coronamaßnahmen: Songs über „Die“
Bei Corona auf Streit gebürstet: An Musikern wie Van Morrison oder den Schauspielern von #allesdichtmachen spalten sich die Meinungen.
Sing it for me / sing it for you / sing it for the people / who feel the same the way I do. Thank God for the blues!“ Angeblich hat man ihn, den Blues, oder eben nicht. Van Morrison hat ihn. Mit „Them“ zeigte er der Welt 1964, wie schlüpfrig und energetisch drei Akkorde klingen, wenn man den richtigen Frauennamen („Gloria!“) darüberschreit, mit „Brown Eyed Girl“ bewies er sich als Solokünstler und Songwriter, bis heute hat er 36 Alben veröffentlicht. 75 Jahre alt ist „Van the Man“, Grammy-Preisträger, Mitglied in der Rock-’n’-Roll- und Songwriter-Hall of Fame. 2016 wurde der Nordire zum „Knight Bachelor“ geschlagen.
Aber soll jener Blues, für den er sich in einem der 28 Songs auf seinem neuen Album „Latest Record Project Volume 1“ bei Gott bedankt, tatsächlich nur Menschen erreichen, die denken wie er? Die ebenfalls sicher sind, dass „Wissenschaftler falsche Fakten erfinden“, dass die „faschistische Polizei“ uns „die Freiheit nimmt“ und die Regierung das Ziel verfolgt, „uns zu versklaven“?
Mit Songs wie „No More Lockdown“, aus dem jene Zeilen stammen, oder „Stand and Deliver“ hatte sich Morrison, teilweise mit Unterstützung des Gitarristen Eric Clapton, im letzten Jahr als Gegner der staatlichen Coronamaßnahmen positioniert. Sein neues Album, das am 7. Mai erschien, wird somit anders gehört werden als frühere Werke – und gehört damit vielleicht zu einem Phänomen.
Die Rezeption verändert sich
Dass Künstler:innen sich deutlich politisch äußern, dass Punkbands zu sperrigen Sounds Kritik herausbrüllen, Folksänger:innen leise zu Gitarre anklagen, Rapper sprachlich provozieren, ist der älteste Hut der Welt. Aber in dieser Welt verändert sich gerade die Rezeption sämtlicher Kunst, inklusive dem „unpolitischen“ Mainstream, zu dem (für die Älteren) Bluesrock und (für die Jüngeren) Pop zählen.
Denn die Pandemie und ihre Maßnahmen werden je nach Gesundheit, finanzieller Sicherheit, persönlicher Resilienz und Erfahrung unterschiedlich empfunden. Dabei macht gerade das Unspezifische, Allgemeingültige einen Teil jener Qualität aus, die Pop und Rockmusik so viele verschiedene Menschen berühren lässt.
Diese kollektive Wirkung lag einerseits im gemeinsamen Hörerlebnis etwa bei Konzerten oder in Clubs – Situationen, die in Zeiten des Social Distancing flachfallen. Andererseits waren die in Pop-Texten vielbenutzten Personalpronomen „I“, „We“ oder „You“ hervorragend auf Beziehungen, auf Liebes(kummer)dinge anwendbar: Das lyrische „Ich“ singt für ein lyrisches „Du“, vor allem das selige „Wir“ symbolisiert die ganze romantische Palette des gemeinen Drei-Minuten-Lovesongs.
Doch nun geht es, wie im Beispiel Van Morrison, nicht mehr um „uns“, sondern um „die“. Und der inkludierende Song beginnt zu distanzieren: „They Own the Media“, heißt ein Stück auf der Van-Morrison-Platte. „They own the media / They control the stories that are told / They control the narrative / Keep on telling you lies“ – das ominöse „Sie“, das Morrison nicht spezifiziert, ist also eine Gruppe, zu der man nicht gehört, die einem Übles will, die alles kontrolliert – eine klare Verschwörungserzählung. Vier von den musikalisch unauffälligen 28 Songs auf dem Album sind eindeutig mindestens maßnahmen- und regierungskritisch, drei sind frei von jeglichem polemischen Geschmäckle – darin geht es um die Liebe. Der größte Teil der Platte ist perfiderweise ambivalent.
Unabhängig von der geschmacklichen Frage, ob der ewig schon auf der gleichen Bluesnote swingende Morrison, dessen Musik mittlerweile keinen Dudelsender dieser Welt überfordert, einem überhaupt noch etwas geben muss: Wer nicht tiefer hineinhört in die Platte, wessen Englisch dürftig ist, wem Texte eh egal sind, der nimmt klassische radiotauglische Songs wie „Thank God for the Blues“ einfach als Blueshymne.
Will ich über eine Meinung hinwegsehen?
Die anderen werden durch Morrisons Haltung in den Diskurs um Künstler:in und Werk gezwungen, der seit Längerem und zu Recht scharf vor allem bei Künstlern geführt wird, die verurteilte oder mutmaßliche Straftäter sind (Michael Jackson, Gary Glitter, Roman Polanski). Eine Debatte, deren Positionen man subjektiv finden muss: Kann und will ich über eine andere Meinung hinwegsehen? Kann ich also „Gloria“ noch hören, zu Morrissey noch tanzen? Oder muss ich bei meiner Kulturrezeption konsequent verfolgen, was ich auch in Diskussionen vertrete? Und inwiefern treffe ich damit die richtigen Leute?
Eine weitere, durch die Pandemie verursachte oder verstärkte Spaltung beim Konsumieren von Mainstreamkultur deutet sich als Konsequenz von Kampagnen wie #allesdichtmachen an: Vor dem letzten Münster-Tatort gab es Boykottaufrufe wegen Jan Josef Liefers’ Teilnahme an der Aktion, der Film unter der Regie von Brigitte Maria Bertele wurde mit 14,22 Millionen Zuschauer:innen allerdings eines der erfolgreichsten Werke der Reihe.
Debattierende in sozialen und anderen Medien warfen sich gegenseitig Hirnverbranntheit vor: „Ist mir doch egal, was der Liefers privat sagt“, „Produktions-Sippenhaft ist ungerecht“ gegen „Den schau ich mir nie mehr an“. Nicht wenige versuchten zudem, in den Textzeilen des fiktiven Rechtsmediziners Prof. Dr. Dr. Karl-Friedrich Boerne, Liefers’ Figur, Zweideutigkeiten zu entdecken. Obwohl das Drehbuch von Elke Schuch nichts zu Coronamaßnahmen oder ideellen Grabenkämpfen beinhaltet, selbst bei großzügiger Interpretation.
Dass Liefers sich selbst via Instagram beim Publikum für „ein eindrucksvolles Statement“ bedankte, wurde ebenfalls unterschiedlich gedeutet. Vielleicht freut er sich, dass so viele Menschen anscheinend tatsächlich niemanden in Sippenhaft nehmen, selbst wenn sie die Aktion ablehnen. Vielleicht nimmt er aber auch an, dass die Zuschauer:innen sich „eindrucksvoll“ für die Aktion positioniert haben.
Vergessen, was passiert ist?
Doch wenn die Pandemie vorbei oder „im Griff“ ist, wenn wieder andere Themen die privaten und politischen Gespräche dominieren, wenn das kollektive Hör- (und hoffentlich auch das cineastische Seh-)Erlebnis wieder möglich ist – was ist dann mit den Gräben, die in den aktuellen hitzigen Auseinandersetzungen ausgehoben werden? Kann und soll man sie wieder zuschütten? Vergessen, was passiert ist? Sich bei „the people / who feel the same way I do“ nur als Blues-Fans angesprochen fühlen?
Weil die Menschen – das hat die Krise wieder mal gezeigt – selbst als Fans der gleichen Kunst, der gleichen Musik enorm unterschiedlich sind, werden sie auch diese Fragen subjektiv beantworten. Einige werden nicht vergessen, andere sofort, wieder anderen ging die Debatte ohnehin am Hintern vorbei.
Mit der politischen Unschuld, die Massenkultur in ihrer Funktion als inkludierendes, soziales Ereignis hatte, das auf einer humanistischen Ebene den Zusammenhalt stärkte, wird es jedenfalls vorbei sein. Die Kultur wird sich verändert haben – auch, weil viele Künstler:innen aufgeben mussten und die kulturelle Welt nicht länger mitprägen. Und weil die Geschichten und Texte von Pandemieerfahrungen geprägt sein werden. Vor allem jedoch durch die Spaltung.
Es bleibt eine Hoffnung: Vielleicht kann man diese Entwicklung zu einer Stärkung des kulturgeschmacklichen Individualismus umdeuten, zur Abkehr vom Mainstream. Schließlich hieß das 1959 erschienene, vierte Elvis Presley-Compilation-Album: „50.000.000 Elvis Fans Can’t Be Wrong“. Und das stimmte schon damals nicht.
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