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Kriterien für Lockdown-EndeDie Gesellschaft soll nachdenken

Der Ethikrat steckt das Terrain der Debatte über das Ende des Lockdowns ab – und kritisiert zwischen den Zeilen Merkels Krisenkommunikation.

TV-Ansprache von Angela Merkel am 18. März Foto: Fabian Strauch/dpa

Berlin taz | Peter Dabrock ist Professor für Systematische Theologie und Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Er formuliert bedächtig, baut Schachtelsätze, die erstaunlicherweise meist ein rundes Ende finden und scheut Zu­spitzungen. Ethik ist ja die Kunst der Abwägung. Und der Ethikrat ist kein reiner akademischer Debattierclub, sondern ein Gremium, das offiziell die Bundesregierung berät. Wenn man Dabrock, der seit vier Jahren Chef des Ethikrats ist, glaubt, dann hat dieses Gremium Macht, wenn auch nur die des besseren Arguments. Auch Minister Spahn hat ihn kürzlich um Rat gefragt.

Die Bundesregierung versucht alle Debatten, wann der Lockdown endet, sorgsam auszutreten. Kanzleramtschef Helge Braun hatte unvorsichtigerweise mal angedeutet nach Ostern könne man vielleicht Maßnahmen lockern – um danach die Diskussion wieder zu ersticken. Merkel fürchtet, dass jedes Signal in diese Richtung als Entwarnung missverstanden wird, das nur falsche Hoffnung schürt, dass alles bald wieder gut sei und die mühsam erarbeitete Disziplin des Kontaktverbots ruiniert.

Am Montag hatte die Kanzlerin die Botschaft noch mal wiederholt und um die Formulierung ergänzt, sie denke „Tag und Nacht“ über den Prozess nach, „mit dem das öffentliche Leben auch wieder Schritt für Schritt möglich wird“.

„Der Rechtfertigungsdruck für den Shutdown steigt“, stellt kühl der Theologe Dabrock in der Bundespressekonferenz fest. Er lobt die Arbeit der Regierung in der Pandemiekrise in höchsten Tönen – aber es ist die Art von Lob, die als Verpackung für die eigentliche Botschaft dient. Nämlich: Es wäre schön, wenn nicht nur die Kanzlerin „Tag und Nacht“ nachdenkt, wie der Lockdown endet, sondern die ganze Gesellschaft.

Der Jurist Steffen Augsberg sieht die Gefahr „einer Eskalationslogik von immer mehr Beschränkungen“ – anstatt Ideen zu diskutieren, wie man aus dem Lockdown wieder herauskommt.

Rückfall in „obrigkeitstaatliches Denken“

Natürlich sei es hierzulande noch zu früh für Öffnungen – wie Dänemark sie ankündigt –, und auch das Räsonieren, wann genau der Zeitpunkt gekommen sei, scheint dem Ethiker Darbock derzeit wenig fruchtbar. Zwingend nötig für eine offene Gesellschaft aber sei „die Debatte über die Kriterien“, wann man Einschränkungen zurücknehmen könne. Ohne konkretes öffentliches Nachdenken über das Ende des Kontaktverbots drohe ein Rückfall in „obrigkeitstaatliches Denken“.

Dabrock warnt davor, gebannt auf Infektions- und Todeszahlen zu starren und dabei „die Opfer des Lockdowns“ aus dem Blick zu verlieren. Zu den Kollateralschäden gehörten Kranke, die auf fällige Operationen verzichten müssen bis hin zu Depressiven, deren Therapie gestrichen wird.

All das ist keine Kritik an dem, wie Bund und Länder handeln – aber, wenn auch durch die Blume und abwägend formuliert, fast eine Abrechnung mit der Flucht der Bundesregierung in die Einsilbigkeit. Von dem Argument, die Regierung dürfe dem Volk bloß keine trügerischen Hoffnungen machen, hält Darbock gar nichts. Im Gegenteil: Gerade in der Krise brauche die Gesellschaft realistische Hoffnungsbilder für die Zeit danach. Merkels Krisenkommunikation sei „verbesserungsfähig“, so Dabrock.

Offene Debatte ist notwendig

Auch bei der Opposition, die bislang äußerst verantwortungsbewusst und vorsichtig mit Kritik an den Maßnahmen der Regierung war, regt sich Kritik. Der Grünen-Fraktionschef Toni Hofreiter fordert der taz gegenüber „eine offene Debatte über die Phase nach dem Lockdown. Das weitere Krisenmanagement wird nur dann weiter auf breites Vertrauen stoßen, wenn die Bundesregierung ihre Überlegungen offenlegt und zur Debatte stellt.“

Auch der CDU-Ministerpräsident aus Kiel hat das rhetorische Quarantänecamp schon mal verlassen

Jan Korte, Parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion, sieht die Regierung kritisch: „Die Bundesregierung kann nicht alleine entscheiden, wann und wie die nächsten Schritte sind. Da fehlt die Transparenz.“ Und, so Korte zur taz: „Das Parlament muss eingebunden sein.“

Daniel Günther, CDU-Ministerpräsident in Kiel, hat das rhetorische Quarantänecamp schon mal verlassen. Er hält es, so Günther zur Zeit, für möglich, Restaurants und Cafés wieder zu öffnen. „Wo es räumlich möglich ist, den Abstand zu wahren, kann man Regelungen auch wieder lockern.“ Am 14. April treffen sich die MinisterpräsidentInnen mit Merkel. Dann soll entschieden werden, ob und wann es Lockerungen gibt.

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9 Kommentare

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  • "Zu den Kollateralschäden gehörten Kranke, die auf fällige Operationen verzichten müssen bis hin zu Depressiven, deren Therapie gestrichen wird."

    Das ist mir zu pauschal in den Raum gestellt. Der Verzicht auf Behandlungen von physisch und psychisch Kranken wird ja nicht grundsätzlich ausgesetzt. Es wird unterschieden zwischen jetzt notwendige Behandlungen und jetzt nicht notwendigen Behandlungen.

    Hintergrund ist der Schutz von Patienten und Personal vor Infektionen mit all ihren Folgen für Patienten, Personal und dem Gesundheitssystem.

  • Es ist die Angst vor österlicher Unvernunft, die die Politiker und Epidemologen nun die Unsicherheit schüren lässt.

    Anstelle uns als mündige Bürger zu behandeln und positiv mitzunehmen wird über Regelungen wie Quarantäne nach Wiedereinreise und schaurigen Bildern Druck ausgeübt. Schwarze Pädagogik.

    • @J_CGN:

      "Anstelle uns als mündige Bürger zu behandeln..."

      Auch so eine Luftdiskussion. Ein Teil der Bürger ist eben maximal unvernünftig. Wenn allen Bürger sich aus freien Stücken an vernünftig verhalten würden, könnten wir in alle Gesetze und Vorschriften sparen.

  • Diese Intervention des Ethikrats bringt ein paar wichtige Dinge auf den Punkt, die in den letzten Wochen in der politischen und medialen Debatte bzw eben gerade ihrer Verweigerung schiefgelaufen sind: Die zwanghafte Verengung des Blicks auf epidemiologische Strategien zum Kurvenflachhalten, das komplette Ausblenden der durch diese Strategie verursachten Opfer und Kollateralschäden, die "Basta-Rhetorik" (wie @Heike Haarhoff das neulich in einem taz-Kommentar recht treffend genannt hat) der Alternativlosigkeit, mit der jeder Diskussionsversuch abgewürgt wurde - das alles war und ist unnötig, schädlich und einer offenen, freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft nicht würdig.

    "Auch bei der Opposition, die bislang äußerst verantwortungsbewusst und vorsichtig mit Kritik an den Maßnahmen der Regierung war (...)"

    "Verantwortungsbewusst" fand ich das Verhalten der Opposition in dieser Lage bisher eher weniger - im Gegenteil hat sie zu lange einfach ihren Job nicht gemacht. So wie die Regierung zu lange ihren Job nicht gemacht hat, der darin bestanden hätte, transparent unterschiedliche Handlungsoptionen und ihre Folgen abzuwägen, dabei die Interessen und Ratschläge unterschiedlicher Betroffenengruppen und Disziplinen zu berücksichtigen und so weit wie möglich miteinander in Einklang zu bringen und sich vor allem einer Debatte über all das zu stellen, anstatt sich nur hinter dem Ratschlag der Epidemiolgie zu verschanzen.

    Ich habe es als extrem beklemmend erlebt, wie diskussions- und widerspruchslos die Exekutive uns alle in dieses aktuelle Quarantäne-Regime hat hineinreiten können. Umso erleichterter bin ich, dass die Schochstzarre unserer pluralen Gesellschaft sich inzwischen allenthalben lockert. Der Debatte darüber, wann und wie wir aus der Nummer wieder rauskommen, wird sich die Regierung nicht mehr entziehen können.

    • @micha.w:

      Wenn die demokratische Diskussion darüber beendet ist, wie sich das Virus ausbreiten darf und Sie dem Virus mitgeteilt heben, wie es sich dann zu verhalten hat, sollten wir danach unbedingt noch eine Debatte über den Sinn der Gravitation beginnen. Und natürlich darüber abstimmen, ob wir sie weiter akzeptieren.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Das ist genau der Alternativlosigkeits-Bullshit, der die Poliktik in den letzten Wochen so viel Glaubwürdigkeit gekostet hat. Ich fordere keine demokratische Diskussion über irgendwelche Eigenschaften des Virus, sondern über den bestmöglichen politischen Umgang mit der Pandemie. Die hat beim Weg in den Lockdown gefehlt und ist nun mehr überfällig, wenn es darum geht, wann und wie wir ihn am besten und sichersten wieder verlassen können.

        • @micha.w:

          Grundlage für alle Entscheidungen sind nun mal die Eigenschaften des Virus. Die Entziehen sich unserem Einfluss und werden erforscht. So lange wir nicht wissen, wie wir das Virus sicher im Griff haben, ist jede Exit Diskussion eine Luftnummer, weil ihr die Grundlage fehlt.

          PS: Alle was in letzter Zeit über mögliche Kollateralschäden gesagt wird, ist auch reine Spekulation. Weil es auch da keine verlässlichen Daten gibt.

  • Tja, Leute: Rein zu kommen in einen Schlamassel war schon immer leichter, als wieder raus zu finden.

  • ich kritisiere auch - das Bild - das nichts erhellt.