Krise als Ansichtssache: Dunkelschwarz oder rosarot
Beim Wandern in den gewittrigen Bergen kommt unser Autor ins Grübeln: Wie gut ist es, die ganze Wahrheit wissen zu wollen?
O ben auf der Alpgues im österreichischen Vorarlberg war noch alles eitel Sonnenschein. Wir hatten 1.000 Höhenmeter in den Beinen, die Rucksäcke voller frisch gesammelter Pfifferlinge und eine kalte Apfelschorle vor uns.
Aber wir mussten ja wieder runter: In der Nachmittagshitze setzen wir also die Sonnenbrillen auf, füllten die Wasserflaschen und machten uns angeregt quatschend an den Abstieg. Irgendwann blickten wir zufällig auch mal ans Ende des Tals: Uups – da war ja alles finster! Von Tirol zog schnell eine dunkle Wolkenwand heran, und in der krachte und rumpelte es.
Gewitter auf dem Berg, das ist nicht gut. Wir hasteten Richtung Baumgrenze, den bangen Blick immer wieder zu den Wolken. Die Wand kam näher, wurde schwarz, schwärzer und schwärzer. Und bald dunkelschwarz. Dieses Grummelmonster, das da über den Pass ins Tal kroch, schluckte das Sonnenlicht wie ein schwarzes Loch.
Irgendwann musste ich mir aber kurz den Schweiß vom Gesicht wischen. Und siehe da: Als ich dann ohne getönte Gläser vor den Augen weiter lief, war die drohende Unglückswolke plötzlich – nur noch mittelgrau. „Puuh“, sagte mein Begleiter, „der Weltuntergang sieht ohne Sonnenbrille gar nicht mehr so schlimm aus“. Mit viel Glück und schnellen Schritten schafften wir es tatsächlich heil zurück.
Wir Alarmisten!
Aber als Experte für Weltuntergang nagte dieses Erlebnis an mir. Denn ist das nicht der Vorwurf an uns Alarmisten? Ihr seht zu schwarz! Die Welt kann gar nicht untergehen! Das Klima ändert sich immer! Wir finden schon eine technische Lösung! Es ist noch immer gut gegangen!
Setzen wir also auch angesichts der aufziehenden großpolitischen Gewitterwolken einmal meine linksgrün-versiffte Sonnenbrille mit Katastrophen-Voreinstellung ab. Und schauen mal genau hin: Ist dieser Klimawandel nicht nur eine Einbildung? (Nein, aber schön wär es). Machen wir nicht zu viel Geschrei über ein paar aussterbende Lurche? (Nein, das Netz der Artenvielfalt beginnt tatsächlich zu zerreißen). Ist die Plastikhysterie nicht übertrieben? (Nein, das Zeug ist inzwischen wirklich überall, wo es nicht hingehört.) Ist das nicht alles Einbildung? (Nein, sondern tausendfach wissenschaftlich belegt.)
Und wie wäre es, wenn wir andersherum schauten? Von außen auf die verspiegelten Gläser: Gegen die traumtänzerische Seelenruhe, mit der viele Entscheider diese drängenden Probleme ausblenden, könnte meine Katastrophenbrille vielleicht ganz hilfreich sein. Denn wie kurzsichtig oder verblendet muss man sein, um unsere verfahrene Lage nicht zu sehen: den immer schnelleren Schritt hin zum Abgrund, den bröckelnden Kies unter dem Schuh, das Sicherungsseil kurz vor dem Reißen, das völlig irrsinnige Hoffen auf die Bergwacht in letzter Sekunde oder irgendeine Erfindung, die den Sturz über die Klippe noch auffängt.
Diese Sichtweise ist noch deutlich verzerrter und weitaus gefährlicher als mein verdunkelter Blick auf die Gewitterwolke. Die Wissenschaft erklärt uns: Nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn sehen wir (nicht). Also: Wir erblicken die Schwierigkeiten, aber wir lassen sie im Hirn gleich wieder verblassen. Das ist die Ignoranz, die Verdrängung, das Nicht-handeln-wollen.
Oder eben eine ganz andere Fehlsichtigkeit: die Ideologie der rosaroten Brille.
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