Kriegslage in der Ukraine: Vor einem blutigen Sommer
Kiew kündigt an, den zu Kriegsbeginn verlorenen Süden der Ukraine zurückzuerobern. Derweil verstärken Moskaus Truppen ihre Angriffe im Donbass.
Seit Wochen schon gibt es mehr oder weniger deutliche Ankündigungen, jetzt ist es offiziell: Die Ukraine will den von Russland besetzten Süden ihres Landes zurückerobern. Wie die Zeitung Kyiv Independent in der Nacht zum Montag bestätigte, hat Vizepremierministerin Iryna Wereschtschuk die Bevölkerung des größtenteils russisch besetzten Distrikts Cherson aufgefordert, die Region zu verlassen, da die Ukraine eine Offensive plane und Russlands Armee die Zivilbevölkerung als „menschliche Schutzschilde“ missbrauchen könne. „Es sollten dort keine Frauen und Kinder sein“, erklärte die Politikerin.
In einem Interview mit der britischen Times ergänzte Verteidigungsminister Oleksii Resnikow, Präsident Wolodimir Selenski habe den Befehl erteilt, „Küstengebiete zurückzuerobern, die überlebensnotwendig für die Wirtschaft des Landes sind“. Die Ukraine habe mittlerweile eine Million Kämpferinnen und Kämpfer unter Waffen: 700.000 in der Armee, dazu Nationalgarde, Polizei und Grenzschutz. Seit Kriegsbeginn hätten sich 400.000 Veteranen wieder den Streitkräften angeschlossen, 130.000 Zivilisten seien zur Territorialverteidigung gestoßen.
Die an die Krim angrenzenden südukrainischen Küstenregionen waren zu Kriegsbeginn Ende Februar innerhalb weniger Tage an Russland gefallen, die Großstadt Cherson wurde kampflos übergeben. Erst vor Mariupol im Osten und Mykolajiw im Westen kam der russische Vormarsch ins Stocken.
Mariupol wurde in mehrmonatiger Belagerung fast komplett zerstört und schließlich eingenommen; Mykolajiw leistete erfolgreich Widerstand, und seitdem hat sich auf dem flachen Land zwischen Mykolajiw und Cherson eine Frontlinie etabliert, die sich nach Nordosten fortsetzt. Russische Vorstöße von Süden aus ins Landesinnere wurden von der Ukraine nach anfänglichem Zurückweichen gestoppt, aber die Ukraine hat alle ihre Häfen östlich von Mykolajiw verloren.
Beide Seiten auf Eskalation eingestimmt
Ende Mai gingen ukrainische Truppen zu Gegenangriffen über, ermutigt durch Berichte, wonach der Großteil der russischen Truppen im Süden Richtung Donbass abgezogen worden sei. Immer wieder erobert die Ukraine seitdem nordöstlich von Cherson sowie südlich von Saporischschja einzelne Dörfer und Landstraßen zurück. Russland führte derweil in den besetzten Gebieten den Rubel ein, stahl die Getreideernte und ersetzte ukrainische Medien und Internetverbindungen durch russische.
Seit rund zwei Wochen hat die Ukraine ihren Beschuss russischer Rüstungs- und Munitionslager hinter der Front deutlich verstärkt, offenbar unter Nutzung der jüngst von den USA gelieferten Raketensysteme größerer Reichweite. Umgekehrt hat der russische Beschuss Mykolajiws wieder zugenommen. Alles deutet also auf einen kommenden größeren Waffengang zwischen beiden Ländern in der Südukraine hin.
Dies folgt auf die schwersten Kämpfe seit Kriegsbeginn im ostukrainischen Donbass, wo Russland nicht schnell vorankommt, sondern zähem Widerstand ausgesetzt ist und hohe Verluste erleidet. Erst vor zwei Wochen räumte die ukrainische Armee die Frontstädte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk und damit die letzten noch nicht verlorenen Teile des Distrikts Luhansk. Beide Städte sind nach monatelangen Kämpfen fast vollständig zerstört. Russland konzentriert sich nun auf die noch ukrainisch kontrollierten Teile des Distrikts Donezk und bombardiert auch wieder die Millionenstadt Charkiw weiter nördlich.
Intensivere russische Angriffe im Osten, intensivere ukrainische Angriffe im Süden – der Ukraine steht ein heißer, blutiger Sommer bevor. Beide Seiten stimmen ihre Länder auf Eskalation ein. „Jeder sollte wissen, dass wir im Großen und Ganzen noch nichts Ernsthaftes begonnen haben“, sagte Russlands Präsident Wladimir Putin am 7. Juli. Oleksii Danilow, Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates der Ukraine, konterte am Montag: „Der zahlenmäßige Vorteil der russischen Armee wird von der Treffsicherheit der ukrainischen Raketen und Artillerie ausgeglichen. Westliche Waffenlieferungen an die ukrainischen Streitkräfte ändern bereits den Verlauf des Krieges. Und wir fangen gerade erst an.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?