Krieg um Bergkarabach: Beide Seiten mit Maximalforderungen
Die Vertreibung aus Bergkarabach wäre für die armenische Bevölkerung bitter. Die Verantwortung für ihr Schicksal tragen auch armenische Regierungen.
W as derzeit in Bergkarabach passiert, ist eine Tragödie von historischem Ausmaß. Eine Region, die seit Jahrhunderten von Armeniern bewohnt wird, die oft zum mythischen Ursprungsland des armenischen Volks verklärt wurde, dürfte in wenigen Monaten von der armenischen Bevölkerung „gesäubert“ worden sein. Nach dem Völkermord 1915, dem der größte Teil der Armenier im Osmanischen Reich zum Opfer fiel, ist das eine neuerliche große Katastrophe, gut 100 Jahre nach der „Großen Katastrophe“ in Anatolien.
Doch zur Wahrheit gehört: Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Durch klügere Politik diverser armenischer Regierungen in den letzten 30 Jahren hätte die jetzige Tragödie wahrscheinlich verhindert werden können. Politik im Kaukasus, das gilt für Aserbaidschaner wie für Armenier, ist eine Politik der Maximalforderungen. Der Nachbar ist ein Todfeind, Kompromisse mit ihm sind undenkbar.
Das wusste schon der Georgier Iosseb Dschughaschwili, besser bekannt unter seinem Kampfnamen Josef Stalin. Noch als Sowjetkommissar für Nationalitätenpolitik ließ er bei der Festlegung der Sowjetrepubliken einen Flickenteppich autonomer Regionen anlegen, die dafür sorgten, dass sich die Republiken spinnefeind waren. Deshalb wurde das überwiegend armenisch besiedelte Bergkarabach eine autonome Region innerhalb der neu entstandenen Sowjetrepublik Aserbaidschan und nicht Teil der Sowjetrepublik Armenien.
Für die Armenier war es ein Albtraum. Unter aserischer Verwaltung wurden sie in Karabach drangsaliert und diskriminiert. Diese offene Wunde Bergkarabach brach schließlich schon in den letzten Jahren der Sowjetunion auf und entzündete sich vollends mit der Auflösung des sowjetischen Reichs. Bergkarabach erklärte sich für unabhängig, Armenier aus der Diaspora unterstützten diesen Schritt euphorisch. Sie spendeten Geld, freiwillige Kämpfer kamen nach Karabach, die Zukunft erschien rosig.
Kein Partner für Friedensverhandlungen
Weitsichtige Politiker wie der erste armenische Präsident Lewon Ter-Petrosjan, die zuvor auf eine Verständigung mit der Türkei und über diesen Hebel auch mit Aserbaidschan gesetzt hatten, wurden dann niedergemacht. Stattdessen übernahmen Hardliner aus Bergkarabach auch die politische Führung in Jerewan. Der militärische Erfolg schien ihnen recht zu geben. Die armenischen Kämpfer vertrieben nicht nur alle Aserbaidschaner aus Bergkarabach, sondern besetzten auch die umliegenden Provinzen, vertrieben auch dort Tausende Aserbaidschaner und erklärten die Gebiete zum Sicherheitsgürtel.
Eine Friedensinitiative des damaligen türkischen Außenministers Ahmet Davutoğlu wurde 2009 zurückgewiesen. Die Türkei solle erst einmal den Völkermord anerkennen, befand eine Mehrheit im armenischen Parlament. Dabei übersahen die armenischen Maximalisten, dass diese Anerkennung am Ende eines Friedensprozesses vielleicht erfolgt wäre, als Eingangsbedingung aber kaum zielführend war. Mit den Aserbaidschanern reden wollte man erst recht nicht.
Für armenische Nationalisten sind Aserbaidschaner minderwertige Türken, deren einziges Ziel es ist, den Völkermord an den Armeniern zu vollenden. Nun ist die Familiendiktatur der Alijew in Baku sicher kein angenehmer Partner, Klone der Türken sind sie aber nicht. Der jetzt regierende Sohn Ilham Alijew nutzte das Thema Bergkarabach, um sein Image aufzupolieren, denn der immer wieder propagierte Kampf zur Rückgewinnung der Gebiete ist eines der wenigen Themen, bei dem er von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird.
Alijew nutzte die Gunst der Stunde
Weil Armenien Kompromisse ablehnte, musste die Führung immer stärker auf Russland setzen, wohl wissend, dass Aserbaidschan für den Kreml im Ernstfall nur Verhandlungsobjekt sein würde. Das hat sich nun fürchterlich gerächt. Während Armenien in der Region weitgehend isoliert ist und dabei immer ärmer wurde, wurde Aserbaidschan aufgrund seiner sprudelnden Öl- und Gasquellen immer reicher.
Das nutzte zwar der aserbaidschanischen Bevölkerung nichts, doch Alijew hatte ausreichend Geld, um seine Armee zu modernisieren. Und er hatte die Geduld, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Im Krieg 2010 holte er sich mit türkischer Unterstützung die von den Armeniern besetzten Provinzen plus einen Teil von Bergkarabach zurück.
Jetzt, wo Wladimir Putin so dringend auf Nachschub aus Aserbaidschan und ein gutes Verhältnis zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angewiesen ist, ließ Alijew Bergkarabach komplett erobern. Vorläufig hat der Maximalpolitiker Alijew gesiegt, die Maximalisten auf armenischer Seite haben verloren. Kluge Politik ist im Kaukasus immer noch nicht in Sicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit