Nach der Kapitulation von Bergkarabach: Schwere Explosion und mehrere Tote

Bei einer Explosion in Bergkarabachs Hauptstadt werden 200 Menschen verletzt, viele getötet. Die Ursache ist unklar. Zehntausende verlassen das Land.

Hohe Flammen schlagen aus einem Gebäudekomplex

Warum dieses Treibstoffdepot nahe Stepanakert in Flammen aufging, ist derzeit noch ungeklärt Foto: Innenministerium Bergkarabach via Reuters

WIEN taz | Knapp eine Woche nach Beginn des aserbaidschanischen Angriffs sind Zigtausende Menschen aus Bergkarabach vertrieben worden. Fotos zeigen lange Autokolonnen über die bergigen Straßen. Mehr als 6.600 Vertriebene waren Montagnachmittag bereits in Armenien angekommen, hieß es aus der Hauptstadt Jerewan. Beobachter sprechen aber bereits von Zehntausenden Vertriebenen.

Seit Monaten warnt Armenien vor „ethnischen Säuberungen“, nichts anderes dürfte nun im vollends von Aserbaidschan kontrollierten Bergkarabach eintreten. Dafür sprechen die Hunderten Toten, darunter auch mehrere Kinder, seit Aserbaidschan auch mit Bodentruppen einmarschierte. Die Streitkräfte Bergkarabachs hatten umgehend kapituliert, das Mutterland Armenien räumte von Vornherein – auch mangels militärischer Kapazitäten – ein, sich herauszuhalten.

Montagabend kam es zu einer schweren Explosion in der Gebietshauptstadt Stepanakert, offenbar von einem Treibstoffdepot. Dabei wurden nach Angaben der dortigen Gesundheitsbehörden mindestens 20 Menschen getötet und 290 verletzt. Die Ursachen der Explosion sind noch unklar.

Von einer großen Zahl an Verbrennungsopfern berichtet eine verzweifelte Ärztin am Krankenhaus Stepanakert in einem Video: „Viele haben Verbrennungen, uns fehlen die Ressourcen für die nötigen Wiederbelebungsmaßnahmen. Wir müssen die Patienten in spezialisierte Abteilungen in Jerewan bringen.“ Zu solchen Evakuierungen dürfte es aber nicht gekommen sein, da weiterhin weder Hilfsorganisationen noch Journalisten in das aserbaidschanisch kontrolliere Bergkarabach einreisen dürfen.

Völliger Bruch zwischen Armenien und Russland

Am Montag traf der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seinen aserbaidschanischen Verbündeten und Amtskollegen Ilham Alijew, symbolisch bedeutsam in Nachitschewan. Alijew fordert schon lang eine Anbindung dieser aserbaidschanischen Exklave an das Mutterland. Einiges spricht dafür, etwa die derzeitigen Mächteverhältnisse, die Passivität Russlands und die schwache bis fehlende westliche Reaktion, dass Aserbaidschan den Verbindungs-Korridor militärisch einnimmt.

Die armenische Armee hätte dem hochgerüsteten Aserbaidschan kaum etwas entgegenzusetzen. An seiner schmalsten Stelle ist der südöstliche Zipfel Armeniens kaum breiter als 20 Kilometer. Ein armenisches Alptraumszenario wäre, wenn Alijew den äußersten Südosten des Landes vom Rest Armeniens abschneidet – oder gleich die gesamte Region unter seine Kontrolle bringt.

Dies könnte schneller gehen als vielen lieb ist. „Leider haben die Sowjetautoritäten das westliche Sangesur (die heutige armenische Provinz Syunik, Anm.) von Aserbaidschan gelöst. Und damit die Landverbindung gebrochen“, sagte Alijew zu Erdoğan. Erklärtes Ziel beider sei es, dies zu ändern.

Unterdessen hat Moskau offenbar völlig mit Armenien gebrochen. Nachdem Armeniens Premier Nikol Paschinjan die russischen Friedenstruppen, die 2020 zum Schutz der Karabach-Armenier in Bergkarabach abgestellt wurden, offen kritisiert hatte, folgte am Montag die Retourkutsche. „Paschinjans inakzeptable Attacken gegen Russland müssen zurückgewiesen werden. Sie sind ein Versuch, sich von eigenem Versagen in Innen- und Außenpolitik zu befreien“, so das russische Außenministerium.

Es folgt russische Kritik daran, dass sich Armenien von Russland wegbewegt hätte – und nun mit den Folgen zu leben habe. Das ist eine Umkehrung der Realität: Die russischen Friedenstruppen waren es, die der vorangegangenen neunmonatigen Blockade Bergkarabachs tatenlos zugesehen haben. Auch die aktuellen Angriffe Aserbaidschans ließen die Friedenstruppen geschehen – mit höchster Wahrscheinlichkeit erhielt Alijew davor grünes Licht von Moskau.

Das russische Heraushalten bei dieser Katastrophe war vielleicht erwartbar, das europäische war es nicht. Auch im Angesicht von ethnischen Säuberungen und Hunderten Toten erwägt die EU weiterhin nicht, Sanktionen zu verhängen, allen voran die Gasimporte aus Aserbaidschan zu beenden. Alles deutet darauf hin, dass Aserbaidschan weiterhin tun und lassen kann, was es will.

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