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Krieg in der UkraineNacht des Horrors

Die Menschen in Charkiw erleben an diesem Wochenende die schwersten russischen Angriffe seit dem Beginn von Moskaus Großinvasion am 24. Februar 2022.

Wohnhaus in Charkiw nach einem russischen Angriff in der Nacht zu Samstag Foto: Andrii Marienko/AP/dpa

Charkiw taz | In Charkiw, der zweitgrößten ukrainischen Stadt im Osten des Landes, ist es an diesem Sonntagvormittag wie auch in der Nacht davor ruhig – im Gegensatz zu den vergangenen Tagen. Ist dies nur eine trügerische Ruhe vor dem nächsten Sturm?

In der Nacht zum Samstag erleben die Menschen hier die massivsten russischen Angriffe seit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022. Innerhalb von nur zwei Stunden werden 48 Shahed-Drohnen (ein Sprengkopf wiegt zwischen 50 und 90 Kilogramm), vier gelenkte Flugbomben mit einem Gewicht von je 250 Kilogramm und ein Marschflugkörper, dessen Sprengkopf ebenfalls mehrere hundert Kilogramm wiegt, auf Charkiw abgeschossen. Drei Menschen sterben, 22 werden verletzt.

„Die Nacht war die Hölle. Wir haben in drei Jahren in Charkiw schon einiges erlebt, aber an so einen Horror kann sich niemand erinnern. Mehrere Stunden lang flog, pfiff, summte und explodierte alles gleichzeitig. Häuser bebten, auf Parkplätzen ging Alarm los, überall brachen Brände aus. Das Dröhnen war so laut, dass selbst absolut taube Menschen es aufgrund der starken Vibrationen gehört haben. Schwarzer Rauch hängt noch immer über der Stadt. Heute haben sich viele Menschen innerlich vom Leben verabschiedet. Als ich nachts im Flur saß, habe ich zu Gott gebetet, dass es schnell und ohne Leiden über die Bühne geht. Am besten alle auf einmal samt ihren Haustieren“, schreibt die Charkiwerin Anna Gin auf Facebook.

Jewgeni Wassilenko, Pressesprecher der Rettungskräfte in Charkiw, kann kaum glauben, was er da gerade über Funk hört. Hinter ihm brennt immer noch ein neunstöckiges Wohnhaus im Stadtzentrum. Nach drei Stunden ist es den Rettungskräften gelungen, eine junge Frau unter einer tonnenschweren Platte aus einer brennenden Wohnung herauszuholen. Sie lebt.

Selfie als Andenken

Die 26-jährige Charkiwer Polizistin Maria Simonenkowa ist schwer verletzt und wird auf einer Trage weggebracht. Einige Retter machen Fotos mit ihr – als Andenken. „Besser als unter den Platten“, sagt Maria und lächelt sogar für einen kurzen Moment, ihre Augen sind tränennass. Sie wird sofort in ein Krankenhaus gebracht.

Ihre Mutter Irina Iwanenko erinnert sich mit zitternder Stimme an die längsten Stunden ihres Lebens. „Es gab eine Explosion, aber die war nicht so laut wie sonst. Mir war klar, dass ein Geschoss irgendwo in der Nähe eingeschlagen war. Aber ich dachte nicht, dass unser Haus oder unsere Wohnung betroffen war. Ich öffnete die Türen und sah nur Rauch. Und irgendwo weit, weit weg schrie meine Tochter und flehte um Hilfe. Ich konnte ihr nicht helfen. Der Kunststoff brannte stark, es stank fürchterlich. Sie bat mich, sie herauszuziehen, aber ich konnte nichts tun. Ich versuchte, die Platte hochzuheben, aber das war unmöglich. Jetzt will ich zu meiner Tochter, um herauszufinden, was die Untersuchungen ergeben haben“, sagt Irina.

In der Nacht zu Samstag werden drei Wohnhäuser getroffen. Auch ein Betrieb, der Polypropylenverpackungen für landwirtschaftliche Erzeuger herstellt, geht in Flammen auf. Dessen Direktor hat gerade erst Maschinen aus der Schweiz angeschafft. Sechs seiner Arbeiter liegen unter den Trümmern. Sie gelten als vermisst. Sowohl die Rettungskräfte als auch der Bürgermeister von Charkiw, Igor Terechow, räumen ein, dass es, anders als im Fall der 26-jährigen Polizistin, praktisch keine Hoffnung auf Rettung gibt.

Am Samstagabend greift die russische Armee Charkiw erneut an. Vier gelenkte Flugbomben werden auf das Zentrum von Charkiw abgefeuert. Eine davon trifft das Gelände der Kindereisenbahn, die sich gerade auf die neue Saison vorbereitet hat und wieder ihre Tore öffnen wollte – zum ersten Mal seit der russischen Großinvasion.

Freude und Hoffnung

Sie wolle den Kindern wieder Freude und Hoffnung schenken, hatte die neue Leiterin der Charkiwer Kindereisenbahn Anna Demenkowa gesagt, sie war erst seit zwei Wochen im Amt. Doch die 30-Jährige wird direkt vor dem Eingang ihres Büros von Granatsplittern am Kopf getroffen und erliegt wenig später ihren Verletzungen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von einem weiteren „brutalen Mord“. Militärisch ergebe das keinen Sinn, das sei reiner Terrorismus. Man habe es seit mehr als drei Jahren mit einem umfassenden Krieg zu tun. Das könne niemand ignorieren, sagt Selenskyj und fordert die westlichen Verbündeten auf, den Druck auf den Kreml zu erhöhen, um den Krieg zu beenden.

Insgesamt sind in Charkiw und den umliegenden Ortschaften an diesem Wochenende mindestens sechs Tote und 44 Verletzte zu beklagen. Am Montag soll in Charkiw ein Trauertag ausgerufen werden. Er wird nicht der letzte sein ….

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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10 Kommentare

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  • Es ist absolut reiner Terrorismus. Keine militärischen Ziele werden anvisiert, sondern gezielt Zivilisten.

    Europa sollte nicht nur aus humanitären Gründen die Unterstützung erhöhen/erweitern sondern auch als Selbstschutz.

    Wenn die russischen Kräfte nicht mehr an der riesigen Ukraine gebunden sind (ca. 500.000), kann man sich vorstellen was ein Viertel davon an der Grenze zu Estland (ca. 10.000 reguläre Streitkräfte) anrichten könnte.

    Und spätestens dann müsste die Nato handeln. Wenn nicht zerbricht sie, und dann wird jedes Land wieder in Sorge vor dem Nachbarn leben müssen.

    • @Pawelko:

      "Keine militärischen Ziele werden anvisiert, sondern gezielt Zivilisten."

      Das ist zwar ein bekanntes Narrativ bei uns, aber die Realität ist komplexer. Wie Oberst Reisner neulich noch anmerkte geht Russland rücksichtslos vor und nimmt zivile Opfer in Kauf, jedoch sind Zivilisten nicht das primäre Ziel (schauen Sie sich hierzu doch auch Mal die offiziellen Zahlen an und vergleichen Sie mir anderen Kriegen).

      • @Alexander Schulz:

        Was genau sagt Herr Reisner über den militärischen Zweck von Shahed-Drohnen-Schwärmen und ballitischen Raketen, die auf Wohngebiete, geschossen werden und die Hunderten Gleitbomben täglich, die auf frontnahe Ortschaften niedergehen, bis buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen steht? Und wo sagt er das (Link bitte)?



        "(schauen Sie sich hierzu doch auch Mal die offiziellen Zahlen an und vergleichen Sie mir anderen Kriegen)."



        Sie spielen mal wieder auf die "niedrige" Zahl ziviler Opfer an. Für die gibt es nur zwei Gründe (und die Art der russischen Kriegsführung gehört nicht dazu): Die Ukrainer fangen mittlerweile deutlich über 90% aller Drohnen und Raketen ab. Und Sie evakuieren Ortschaften, wenn die Front sich nähert, konsequent und frühzeitig.

        • @Barbara Falk:

          Reisner hatte sich übrigens schon öfter zu der skrupelosen Taktik der russischen Luftangriffe geäußert - zb bei seinem vorletzten NTV Interview.



          Ich verurteile die skrupellose Art der Kriegsführung und den russischen AngriffsKrieg generell. Trotzdem gehört es zu einer differenzierten Betrachtungsweise hinzu zu unterscheiden, ob das primäre Ziel ist Zivilisten zu töten oder ob dieses billigend in Kauf genommen wird.



          Wenn Sie die These vertreten, dass es Putins Ziel ist primär Zivilisten zu töten, dann müssen Sie sich schon die Zahlen anschauen und diese analysieren. Vergleichen sie z.B. die Zahlen der ersten Monate als es noch keine westlichen Flugabwehrsysteme gab mit anderen Kriegen. Sie werden feststellen, dass sich die Zahlen nicht mit "Vernichtungskriegen" vergleichen lassen. Schauen Sie sich als Vergleich Ruanda oder Bosnien an oder die Wehrmacht in der Ukraine, die in 2 Tagen mehr Zivilisten tötete als die Russen innerhalb der ersten 2 Jahre:



          www.bpb.de/kurz-kn...ker-von-babyn-jar/

          de.statista.com/st...rch-ukraine-krieg/

  • Schade, dass die Länder, die der Ukraine Sicherheit zugesichert haben als sie ihre Atomwaffen abgegeben hat, nicht wirklich helfen.

    Es hätten schon zu Beginn des russischen Angriffskriegs europäische Truppen in der Ukraine die Luftverteidigung übernehmen müssen. Sofort nach Beginn des Krieges. 200000 europäische Soldaten mit der entsprechende Ausrüstung. Das wäre die einzige Möglichkeit gewesen, den Krieg sofort zu stoppen.

    Aber die Europäer glauben leider immer noch, dass Putin eigentlich nicht so schlimm ist.

    • @Gnutellabrot Merz:

      Ein populistische Forderung, die uns in den 3. Weltkrieg gestürzt hätte. Oder ist Putin dann doch nicht so schlimm?

      • @Alexander Schulz:

        Das ist ihre ewige Wunschvorstellung. Sich Putin entgegenstellen? Atomkrieg! Oder, Variante: sinnlos! Diese Leier beten Sie hier seit Jahren rauf und runter. Die einzige noch offene Frage ist lediglich die nach ihrer Motivation. Frieden kann es nicht sein, denn den können wir nur erreichen, wenn wir dem Kriegführenden und Kriegswilligen Grenzen setzen.

      • @Alexander Schulz:

        Woher weißt Du, daß dann der 3.WK begonnen hätte? Putin ist schlimm, aber nicht dumm. Er hätte nie seine Luftwaffe aufs Spiel gesetzt.

        • @Katzenberger:

          Wenig spricht für Ihre These These:

          taz.de/Russische-L...bb_message_5024372

          Putin geht davon aus, dass der Westen nicht so dumm ist und für die Ukraine eine Nuklearkrieg riskiert.

          • @Alexander Schulz:

            Der einzige der einen 3. Weltkrieg riskiert ist ein gewisser Putin, denn ER hat diesen Krieg gestartet und ER ist nicht bereit, den endlich zu beenden und die Ukraine in Ruhe zu lassen!