Krieg in der Ukraine: Durchhalten in einem Trümmerhaufen
In der ukrainischen Stadt Wowtschansk an der Front steht kein Haus mehr. Für die ukrainischen Soldaten steht die Stadt für das, was ganz Europa droht.
Kommt man mit dem Auto an, schnappt man sofort sein komplettes Gepäck inklusive Lebensmittel und Kanister für Wasser und Benzin und rennt zum nächsten Keller. In Wowtschansk gibt es keine oberirdischen Gebäude mehr, in denen man Schutz suchen könnte.
Wowtschansk liegt in Schutt und Asche. Das Neubaugebiet existiert nicht mehr, ebenso wenig gibt es noch den großen Supermarkt, das Gericht und die Aggregat-Fabrik. Von Kirchen und sämtlichen Verwaltungs- und Wohngebäuden sind nur noch Trümmerhaufen übrig.
„Brauchen sie gerade diese Stadt? Wahrscheinlich nicht.“
Wowtschansk liegt etwa 70 Kilometer nordöstlich von Charkiw, direkt an der Grenze zu Russland. Vor dem Krieg lebten hier etwa 19.000 Menschen. Der russische Vormarsch begann hier am 10. Mai 2024. Seitdem hat Russland Lenkbomben, Raketenwerfer, schwere Flammenwerfersysteme vom Typ Solncepek und sogar seine stärkste nichtnukleare Waffe, die ODAB-Vakuumbombe, eingesetzt. Darum ist jetzt von den Wowtschansker Wohngebieten praktisch nichts mehr übrig. Und so sieht auch die Zufahrtsstraße aus. Bevor man sie befährt, erstarren die Menschen im Auto und horchen, ob sich nicht etwa gerade wieder eine Drohne nähert.
In den feuchten, dämmrigen und niedrigen Kellern wird über schwere Verwundungen geredet. Oder darüber, was die russischen Streitkräfte wirklich wollen. „Sie begannen zunächst, Wowtschansk mit Lenkbomben zu beschießen. Das war nach Awdijiwka, als sie unsere Verteidigung mit Lenkbomben durchbrachen. Und jetzt haben sie beschlossen, auf diese Weise auch Wowtschansk zu erobern. Unsere Jungs sind nicht aus Stahl, aber sie haben dem standgehalten“, sagt „Thor“, ein 23-jähriger Pionier der Luftaufklärungseinheit der 57. Brigade, der seit Mai in und um Wowtschansk unterwegs ist.
Der Soldat ist überzeugt davon, dass Wowtschansk an sich für die Russen keinen Wert besitzt, denn sonst würden sie die Stadt nicht in Schutt und Asche bomben. „Ihre Taktik ist dieselbe wie in Awdijiwka. Es geht darum, die Stadt bis auf die Grundmauern zu zerstören, damit unser Militär keinen Platz mehr hat, um sich zu verstecken oder sich zu verteidigen. Brauchen sie gerade diese Stadt? Wahrscheinlich nicht. Sie brauchen nur das Gebiet, das heißt ein Zeichen dafür, dass sie dieses Gebiet durchquert haben, es also besetzt haben. Dann ziehen sie einfach weiter. Die Stadt an sich hat keinen Wert für sie“, sagt „Thor“.
Im Schutzkeller meinen die Menschen, dass die Offensive auf ihre Stadt höchstwahrscheinlich nicht, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj zunächst befürchtete, mit einer geplanten russischen Offensive auf Charkiw zusammenhing. Denn nach Wowtschansk stünden die russischen Streitkräfte weiter westlich vor einem viel größeren Hindernis – dem riesigen Petschenihy-Stausee. Man geht davon aus, dass der Feind höchstwahrscheinlich in Richtung Kupjansk vorrücken wollte.
Die gegnerischen Soldaten in ein und demselben Gebäude
Russland hatte im Frühjahr 2024 offenbar zwar geplant, nach Charkiw vorzustoßen. Doch einen ersten Angriff auf den Ort Lypzi konnten die ukrainischen Verteidigungskräfte stoppen.
Die russischen Pläne wurden durch zwei Faktoren vereitelt: die extreme Standhaftigkeit und Ausdauer der ukrainischen Soldaten sowie die ukrainische Gegenoffensive in das russische Gebiet Kursk im August. Damit verhinderte die Ukraine einen russischen Angriff auf Sumy, der parallel zu den anderen Vorstößen zur Bildung einer „großen Zange“ um Charkiw herum hätte führen können.
Die Front ist in Wowtschansk inzwischen fast stabil. Oft liegen zwischen den Stellungen der russischen und ukrainischen Streitkräfte nur wenige Meter. Manchmal befinden sich die gegnerischen Soldaten sogar in ein und demselben Gebäude, nur auf verschiedenen Etagen. Oder in nebeneinanderliegenden Kellern.
In der näheren Umgebung gibt es noch einige Häuser, in denen Zivilisten leben, das Militär schätzt ihre Zahl auf etwa fünfzig. Sie ernähren sich von dem, was sie im Sommer in ihren Gärten angebaut haben.
Nur in Kellern und Höhlen geht das Leben hier weiter
„Thor“ berichtet über Fälle von Widerstand dieser Menschen gegen die russischen Besatzer. So habe er von einer Drohne aus beobachtet, wie eine Einheimische im Dorf Tyche in der Nähe von Wowtschansk die Habseligkeiten russischer Besatzer, die bei ihr einziehen wollten, aus ihrem Haus auf die Straße warf.
„Adam“, ein ebenfalls 23-jähriger Kommandant der 57. Brigade, erinnert sich daran, wie ein älterer Mann mit einer weißen Tasche allein und zu Fuß aus dem besetzten nördlichen Teil von Wowtschansk auf die ukrainische Seite ging, trotz heftigen Beschusses und Gefahr. Es gelang ihm, völlig unversehrt zu passieren. Und im Sommer statteten zwei Teenager im Alter von 15 bis 18 Jahren ihrer Heimatstadt Wowtschansk während der Ferien furchtlos einen Besuch ab.
Kommandant „Adam“
Keller und Höhlen sind die einzigen Orte in Wowtschansk, an denen das Leben noch weitergeht. Im Keller wird gescherzt, obwohl immer viel Traurigkeit dabei ist. „Wenn ein gesunder Mensch erzählen würde, was hier los ist, ich glaube, das würde nicht jeder aushalten. Wir reden lachend darüber, dass jemand getötet wurde. Man gewöhnt sich an alles. Du kommst nach Hause und es ist nicht mehr dasselbe wie früher für dich, auch wenn es noch genauso aussieht“, gibt Adam zu.
Die Männer der 57. Brigade leben die ganze Zeit unter der Erde, im Halbdunkel, vor Bildschirmen. Oft wissen sie nicht, ob draußen Tag oder Nacht ist. Das Luftaufklärungsteam kommt nur nach oben, um die Drohne aufzuladen oder die Batterie zu wechseln. Die Tage vergehen mit Feindsichtung, Feindzerstörung und Austausch von Informationen. Glücklicherweise wurden in Wowtschansk noch keine Nordkoreaner oder Syrer gesichtet.
Die Angst vor dem dritten Weltkrieg
Es scheint nicht logisch, aber diejenigen, die die brutalsten Schlachten in Bachmut und Wowtschansk erlebt haben, haben Angst vor dem dritten Weltkrieg. „Für unsere Verwandten wird sich alles ändern. Der Krieg kommt schon jetzt in jede Stadt, die Menschen leiden. Aber es wird sich mehr und mehr ausweiten. Ihr seid hier, in den Stellungen, damit eure Liebsten in Frieden leben können“, sagt Kommandant „Adam“ zu seinen Soldaten.
Aber er lacht sofort: „Wir sind von Lenkbomben und Phosphor getroffen worden. Wir sind noch nicht von Atomwaffen getroffen worden, darüber kann ich also noch nichts erzählen.“
In Wowtschansk haben die russischen Streitkräfte Tausende Soldaten verloren, ohne ein klares Ergebnis zu erzielen. Die Russen haben keine „Schmerzgrenze“, davon ist der Luftaufklärungstrupp der 57. Brigade überzeugt. Auch auf zivile Russen zu hoffen, ist zwecklos. „Es wird sie absolut nicht erreichen. Denn sie sind Lebewesen, die einen Zaren brauchen. Sie sind es gewohnt, ihr ganzes Leben lang gebückt zu leben, wie Sklaven“, sagt „Thor“.
Er traut den Russen nicht, auch nicht denen, die das Land verlassen haben. Nach Ansicht des Kämpfers sind die einzigen Patrioten Russlands diejenigen, die im russischen Freiwilligenkorps auf der Seite der Ukraine kämpfen.
Die Kämpfer sind erschöpft
„Für jeden Soldaten ist jeder weitere Tag, jeder Monat, gar nicht zu reden vom nächsten Jahr schwierig, denn die Kämpfer sind einfach erschöpft“, sagt „Thor“. Er ist davon überzeugt, dass – entgegen aller Gerüchte – die aktive Kriegsphase noch mindestens ein Jahr dauern wird. „Adam“ glaubt sogar, dass die Menschen auf einen noch 15 Jahre dauernden Krieg vorbereitet sein sollten.
Beim Abschied sagt „Adam“: „Das ist unser Land. Wir sind hier aufgewachsen, wir leben hier. Es gehört uns. Also müssen wir daran festhalten und das werden wir auch. Und alles wird gut werden. Wir alle werden das Land halten.“
Aus dem Russischen: Gaby Coldewey
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