Krieg in der Ukraine: Kein Konflikt, aber Spannungen
Wie ist die Lage der Ukraine an der Front? Präsident Wolodimir Selenski und der Oberbefehlshaber der Armee sind sich nicht einig.

Im Zentrum stehen Präsident Wolodimir Selenski und Armeechef Walerij Saluschnyj. Beide Männer haben breite Unterstützung in der Bevölkerung und sind für die Ukrainer Symbole im Kampf gegen die russische Aggression. Doch im 21. Kriegsmonat haben sie unterschiedliche Vorstellungen davon, wo die ukrainische Armee steht. Was wiederum an die Öffentlichkeit gedrungen ist und zu Gerüchten über Risse im Verhältnis der beiden geführt hat.
Auslöser dafür war ein Artikel von Saluschnyj am 1. November im Economist. Darin schreibt der Armeechef, die Kampfhandlungen hätten sich zu einem Stellungskrieg entwickelt, der bald zu einer Pattsituation und am Ende zur Erschöpfung einer der Seiten führe – und zwar wahrscheinlich nicht der russischen. Darum müsse die ukrainische Armee technologisch besser ausgerüstet werden. Er bitte die Verbündeten um Unterstützung der ukrainischen Luftstreitkräfte.
Dies sowie sein Eingeständnis, das Tempo der ukrainischen Gegenoffensive falsch eingeschätzt zu haben, war für viele eine kalte Dusche. Offenbar auch für das Präsidialamt, wie man an Selenskis Reaktion erkennen konnte. „Das ist keine Pattsituation. Wir haben Probleme und unterschiedliche Meinungen, aber wir haben kein Recht, die Hände in den Schoß zu legen“, sagte Selenski.
Entlassung per Dekret
Denn: „Was wäre die Alternative? Auf ein Drittel unseres Landes zu verzichten? Damit ist nichts vorbei. Wir wissen, was ein eingefrorener Konflikt ist. Wir müssen bei der Luftverteidigung mehr mit unseren Partnern zusammenarbeiten und unseren Soldaten die Möglichkeit geben, in die Offensive zu gehen.“
Die Spannungen verschärften sich, als Selenski wenig später einen hochrangigen Kommandeur ohne Rücksprache per Dekret entließ und sich damit quasi in Saluschnyjs Verantwortungsbereich einmischte. Damit wurde das Gerücht befeuert, Selenskyj wolle Saluschnyj nicht nur unter Druck setzen, sondern ihn selbst feuern.
Und auch wenn es aktuell keine eindeutigen Anzeichen für einen Rücktritt des Armeechefs gibt, sorgt diese Situation für Unruhe. Gerüchte über einen möglichen Konflikt der beiden tauchen seit Frühjahr 2022, als der Armeechef durch seine Erfolge an der Front das absolute Vertrauen und die Sympathie der Ukrainer gewonnen hat, immer wieder auf.
Tatsächlich ist General Saluschnyj derzeit der Einzige, der im Falle von Präsidentschaftswahlen, über die immer häufiger gesprochen wird, mit Selenski konkurrieren könnte. Gleichzeitig hat Walerij Saluschnyj bereits mehrfach politische Ambitionen bestritten. Seit Februar 2022 hat er nur zweimal Interviews gegeben – für die westliche Presse. Und obwohl er die Konkurrenz des populären Saluschnyjs spürt, weiß Selenskyj, dass er dessen militärisches Genie braucht.
Zwei Ziele
Ukrainische Politolog:innen vermuten, dass Saluschnyj mit dem Artikel im Economist zwei Ziele verfolgt haben könnte. Entweder war dies seine einzige Möglichkeit, Selenski über die reale Lage an der Front zu informieren, denn direkt will der nichts von einer Pattsituation hören. Oder der General wollte seine Autorität nutzen, um die Lieferung der benötigten Waffen zu beschleunigen.
Möglicherweise hatte Saluschnyj diesen Schritt nicht mit dem Präsidialamt abgestimmt, was auf Kommunikationsprobleme zwischen den beiden Schlüsselfiguren in der Ukraine hindeutet. Außerdem könnte Selenskis Verärgerung daher rühren, dass sich jemand mit großer Autorität in seine internationale Kommunikationsstrategie eingemischt hat.
Dennoch haben sowohl Selenski als auch Saluschnyj nach wie vor das Ziel, den Krieg mit einem ukrainischen Sieg zu beenden. Aber angesichts der Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung, der langsamen Fortschritte der ukrainischen Armee, der Ungewissheit über die künftige militärische Unterstützung durch die Partner und der schwindenden Aufmerksamkeit angesichts des Krieges im Nahen Osten sind solche besorgniserregenden Signale über interne Konflikte nicht das, was die Ukraine im Moment braucht.
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