Krieg in Nahost: Drahtseilakt im Westjordanland
Die humanitäre Krise in Gaza spitzt sich weiter zu. Nach langem Zögern hat sich der palästinensische Präsident von dem Angriff der Hamas distanziert.
Während unter anderem Frankreichs Außenministerin forderte, den Grenzübergang Rafah für Nothilfe zu öffnen, zeigte Ägypten weiter mit dem Finger auf Israel. Letzte Woche hatte Israel Ziele nahe dem Grenzübergang angegriffen. Israel scheint nicht bereit zu sein, von Ägypten geforderte Sicherheitsgarantieren abzugeben, derer es bedürfte, um Hilfsgüter über die Grenze zu bringen und in Gaza zu verteilen. Israel habe „kein Signal“ für eine Öffnung gegeben, so Ägyptens Außenminister Sameh Schukri.
„Seit dem dritten Tag der Eskalation gibt es kaum Strom noch Wasser noch Internet“, berichtete Salwa Dschihad der taz, die in Nusairat lebt. Das palästinensische Flüchtlingslager liegt etwas südlich der Linie, nördlich derer die Menschen den Gazastreifen räumen sollen. „Wir waschen uns alle zwei oder drei Tage, um Wasser zu sparen.“
Viele würden Wasser von den Wasserstationen der Stadtverwaltung anzapfen, die allerdings nur eine Stunde am Tag in Betrieb seien. „Sie füllen Plastikbehälter ab und nehmen es zum Trinken mit nach Hause“, erklärt Dschihad. „Beim Reinigen des Wassers helfen sich die Menschen gegenseitig, indem sie Solarenergiepumpen benutzen, um das Wasser zu säubern.“ Allerdings hätte nur etwa eines unter fünfzig Häusern eine Solaranlage.
Israel setzte die Angriffe in Gaza am Montag fort. Auch aus Gaza flog erneut eine Rakete über die Grenze und schlug in Tel Aviv ein. Die Zahl der getöteten Palästinenser*innen lag Hamas-Angaben zufolge am Montag bei 2.750, knapp 10.000 Menschen sollen verletzt worden sein. Damit wäre dieser Krieg bereits jetzt der opferreichste unter den Kriegen, die Hamas und Israel je gegeneinander geführt haben.
US-Außenminister Antony Blinken kehrte am Montag nach einer Tour durch arabische Staaten zurück nach Israel. Washington bemüht sich darum, dass die Lage nicht noch an anderen Fronten eskaliert. Letzte Woche hatte er auch den im Westjordanland amtierenden palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas gesprochen. Nach langem Zögern hat sich dieser mittlerweile etwas von den Hamas-Massakern vom 7. Oktober distanziert, bei denen die Terroristen mehr als 1.300 Menschen töteten, zum allergrößten Teil Zivilist*innen.
Eine scharfe Verurteilung blieb zwar aus, doch zumindest sagte er, die Taten der Hamas „repräsentieren nicht das palästinensische Volk“. Er lehne die Tötung von Zivilist*innen auf beiden Seiten ab. Abbas leitet die Autonomiebehörde im besetzten Westjordanland. Seine Fatah-Organisation steht in Konkurrenz zur Hamas, die seit 2007 in Gaza herrscht, aber auch im Westjordanland Unterstützer*innen hat. Israel gab am Montag an, seit dem 7. Oktober 360 Palästinenser*innen im Westjordanland festgenommen zu haben, 210 mit Hamas-Verbindungen.
Abbas äußerte seine Kritik allerdings nicht in einer Rede an die eigenen Leute, sondern in einem Telefonat mit Venezuelas Staatschef Maduro. Die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa berichtete darüber. Demnach forderte Abbas alle Beteiligten auf, Gefangene freizulassen, was sich offenbar auch auf die knapp 200 Geiseln in Gewalt der Hamas bezog.
Beobachter*innen gehen davon aus, dass Abbas nicht im Vorfeld über den Angriff der Hamas informiert war. Die Massaker, die nun folgenden Vergeltungsschläge und die breite Solidarität in der palästinensischen Bevölkerung mit den Bewohner*innen Gazas stellen ihn nun vor eine schwierige Situation. Er muss navigieren zwischen den Interessen seiner Verbündeten einerseits, inklusive der USA und der israelischen Regierung, die eine Eskalation im Westjordanland verhindern wollen, und einer erhitzten öffentlichen Meinung andererseits. Je blutiger der Krieg wird, desto schwerer dürfte dieser Drahtseilakt werden.
Auffällig ist, dass die Hamas es bislang nicht geschafft hat, den offenen Krieg auch ins Westjordanland zu tragen – und das, obwohl Beobachter*innen schon seit Monaten warnen, dass ein Funke genügen würde, um die Lage dort eskalieren zu lassen. Israels Regierung hatte den Siedlungsbau in dem Gebiet vorangetrieben. Zudem fühlten sich radikale Siedler*innen durch den Diskurs in Israel ermutigt, gewaltsam gegen Palästinenser*innen vorzugehen. Seit Jahreswechsel sind im Westjordanland mehr als 200 Menschen getötet worden, laut Israel zumeist Militante. Im gleichen Zeitraum wurden auf israelischer Seite rund 30 Menschen durch Terrorangriffe getötet.
Am Dienstag will Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in die Region reisen. Am Morgen wird er zunächst den jordanischen König in Berlin treffen, um dann nach Israel aufzubrechen. Ein Gespräch mit Abbas ist nicht geplant. Anschließend geht es weiter nach Ägypten.
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