Krieg in Äthiopien: Ein Massaker, viele Fragen
Hunderte Zivilisten sollen bei Äthiopiens Offensive gegen die Region Tigray getötet worden sein. Wer hinter den Angriffen steckt, ist bislang unklar.
Mai-Kadra liegt in der äthiopischen Region Tigray, die sich im Krieg mit der äthiopischen Zentralregierung befindet. Die äthiopische Armee nahm die Stadt am Morgen des 10. November ein. Die von Amnesty wiedergegebenen Berichte stammen von Zeugen, die zusammen mit äthiopischen Soldaten die Leichen einsammelten.
Ihnen zufolge wurde das Massaker von lokalen Milizionären der in Tigray herrschenden Tigray-Volksbefreiungsfront (TPLF) verübt, die sich im Aufstand gegen Äthiopiens Regierung von Premierminister Abiy Ahmed befindet, seit sie dort ihre langjährige Vormachtstellung verlor. Die TPLF-treuen Kämpfer hätten rund 500 Menschen getötet, zumeist nicht tigrayische Arbeiter, bevor sie sich in der Nacht zum 10. November aus Mai-Kadra zurückzog, so offizielle Quellen aus der Amhara-Nachbarregion.
Doch von Tigray-Seite wird das Massaker den vorrückenden äthiopischen Truppen und insbesondere Amhara-Milizionären an ihrer Seite zugeschrieben. Zehntausende Tigray-Zivilisten sind vor der Armeeoffensive auf der Flucht; rund 25.000 haben es über die Grenze nach Sudan geschafft. Manche davon kommen aus Mai-Kadra.
Ein Reuters-Team zitiert eine Flüchtlingsfrau aus der Stadt über den vorrückenden Gegner: „Sie töteten jeden, der sagte, dass er Tigreer sei. Sie stahlen unser Geld, unser Vieh und unser Essen aus unseren Häusern, und wir rannten weg mit nur unserer Kleidung am Körper.“
Tigray beschießt Eritrea mit Raketen
Die Schilderungen deuten darauf hin, dass an den Kämpfen nicht nur reguläre Streitkräfte beteiligt sind, sondern auch die auf ethnischer Basis rekrutierten Polizeikräfte der Regionalregierungen. Aufseiten der äthiopischen Armee sind das nach amtlichen Angaben mehrere tausend Milizionäre der an Tigray angrenzenden Amhara-Region.
Damit gewinnt ein Krieg, der am 4. November als Machtkampf zwischen Zentral- und Regionalregierung begann, eine ethnische Komponente zwischen verfeindeten Volksgruppen und ihren Führern.
Das erklärt auch, warum in Reaktion auf die Berichte über Massaker in Mai-Kadra Tigray Raketen auf Städte in der Amhara-Region abgefeuert hat. Getroffen wurden in der Nacht zu Samstag die Flughäfen der Regionalhauptstadt Bahir Dar und der Stadt Gondar. Tigray-Regionalpräsident Debretsion Gebremichael hatte zuvor gesagt, jeder Flughafen, der zu Angriffen auf Tigray genutzt werde, sei ein „legitimes Ziel“.
Er erwähnte dabei auch Städte im Nachbarland Eritrea. Am Samstag wurde Beschuss mit Raketen aus Tigray auf Eritrea gemeldet. Sie sollen nahe des Flughafens der Hauptstadt Asmara eingeschlagen sein. Damit hat sich der Krieg um Tigray nach zehn Tagen internationalisiert. Eine Reaktion Eritreas steht noch aus. Die Lage ist explosiv, da in Tigray knapp 100.000 eritreische Flüchtlinge leben, die vor der dortigen Diktatur geflohen sind.
Wer in Tigray selbst die Oberhand hat, ist offen. Am Freitag erklärte Äthiopiens Regierung, die TPLF-Kräfte befänden sich „im Todeskampf“. Die Tigray-Regionalregierung erwiderte am Samstag, sie habe dem Gegner „schwere Verluste“ zugefügt. Am Sonntag erklärte Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed, die Offensive in Tigray „verläuft gut“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht