Krieg im Nahen Osten: Die Angst greift um sich in Gaza
Tausende fliehen in Richtung Süden des Küstenstreifens, die Hamas fordert sie auf zu bleiben. Präsident Abbas warnt vor einer „zweiten Nakba“.
Die Vereinten Nationen warnten, eine Räumung des Gebiets sei in den von Israel geforderten 24 Stunden kaum machbar ohne „verheerende humanitäre Konsequenzen“. Das UN-Hilfswerk für palästinensische Geflüchtete (UNRWA) befürchtet eine Katastrophe. „Das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieser humanitären Krise ist markerschütternd“, erklärte der Sprecher des Hilfswerks, Tamara Alrifai am Freitag. „Gaza wird schnell zum Tor zur Hölle werden und steht am Rande des Kollaps.“
In Gaza sind derzeit noch Teams der Organisation Ärzte ohne Grenzen im Einsatz. Sie behandeln Verletzte im Al-Awda-Krankenhaus, im Nasser-Krankenhaus und im Indonesischen Krankenhaus. Im Al-Shifa-Krankenhaus wurde ein Operationssaal für Verbrennungs- und Traumapatient*innen eröffnet. Wie ein Sprecher der Hilfsorganisation gegenüber der taz bestätigte, wurden rund zwanzig internationale Mitarbeitende Donnerstagnacht aus dem Norden des Gazastreifens in den Süden verlegt.
Die Situation der rund 300 palästinensischen Mitarbeitenden sei derzeit schwierig nachzuverfolgen. „Wir wissen, dass einige von ihnen versuchen, mit ihren Familien in den Süden zu fliehen. Andere, insbesondere medizinisches Personal, werden im Norden bleiben, um zu versuchen, kranke und verwundete Patient*innen zu behandeln“, sagte der Sprecher der taz. Die Organisation forderte die Ausweisung von sicheren Zonen für Bevölkerungsgruppen, die nicht fliehen könnten, und für Krankenhäuser.
Bodenoffensive könnte in Kürze starten
Möglicherweise geht die Evakuieungsaufforderung einer Bodenoffensive voraus, mit der Israel auf die beispiellosen Massaker der Hamas an der Zivilbevölkerung am vergangenen Samstag reagieren würde. So könnte die Armee versuchen, das Gebiet zu durchkämmen und jegliche Infrastruktur der Hamas – Militärstellungen, Bunker und das unterirdische Tunnelsystem der Terrororganisation – zu zerstören, ohne dass Zivilist*innen im Weg sind. Man werde „umfangreiche Anstrengungen“ unternehmen, um zivile Opfer zu vermeiden, erklärte ein Militärsprecher am Freitag erneut.
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Die Situation sei „sehr Angst einjagend“, berichtet Salwa Dschihad der taz, die im Nusairat-Flüchlingslager lebt, das nur wenige Kilometer südlich der Linie liegt, oberhalb derer der Gazastreifen geräumt werden soll. „Tausende Familien fliehen aus Gaza-Stadt und Nordgaza in den Süden.“ Viele liefen bis zu 25 Kilometer zu Fuß. Seit vier Tagen gebe es kaum noch Wasser, Strom und Internet.
Die meisten Menschen kämen der Evakuierungsaufforderung nach, einige weigerten sich jedoch, ihr Zuhause zu verlassen, berichtet die Journalistin Reham R. Owda, die selbst mit ihrer Familie aus Gaza-Stadt in den Süden flüchtete. Wesam Amer, Dekan der Universität in Gaza-Stadt, bestätigte schon am Vormittag: „Viele Menschen haben den Norden bereits verlassen.“ Der Süden sei jedoch während der Nacht weiterhin bombardiert worden.
Es breite sich Angst vor einer „zweiten Nakba“ aus, erzählt Amer – ein Begriff, den am Freitag auch der im Westjordanland amtierende Palästinenserpräsident Mahmud Abbas von der Fatah benutzte. Als Nakba – zu Deutsch Katastrophe – bezeichnen Palästinenser*innen die Flucht und Vertreibung von rund 750.000 Menschen aus der Region im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948.
Auch Salwa Dschihad sagt: „Es ist wie die Nakba 1948. Die Leute lassen alles zurück. Es ist eine große Migrationsbewegung, tausende Vertriebene. Tausende haben Verwandte verloren. Ich kann die Situation kaum beschreiben.“
Die Hamas feuert weiter Raketen ab
Die Angst vor einer endgültigen Vertreibung der Palästinenser*innen aus Gaza ist weit verbreitet. Auch der Politiker Mustafa Barghuti aus Ramallah im Westjordanland erklärte: „Das Problem ist, dass es keinen Ort gibt [an den sich die Menschen flüchten können]. Ich weiß nicht, was Netanjahu vorhat. Offenbar will er eine ethnische Säuberung durchführen“, mutmaßte Barghuti gegenüber der taz noch vor der Evakuierungsaufforderung am Freitag.
In Gaza waren im Laufe des Freitags viele Kontakte nicht erreichbar. „Es gibt weder Strom noch Treibstoff, und das führt zu Wassermangel und einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems“, berichtete Wesam Amer aus Chan Junis im südlichen Gaza, bevor der Kontakt auch zu ihm zunächst abbrach.
Trotz der Ängste in der eigenen Bevölkerung feuerte die Hamas am Freitag den siebten Tag in Folge Raketen auf Israel ab. In Aschkelon, zwölf Kilometer nördlich der Grenze zum Gazastreifen, schlug mindestens eine Rakete ein. Der Armee zufolge wurden auch weiter reichende Raketen abgefeuert, konnten jedoch abgefangen werden: eine über dem Norden Israels, eine weitere auf dem Weg nach Eilat im Süden Israels. Auch in vielen Teilen Nordisraels heulten die Sirenen.
Unterdessen zeigte sich Human Rights Watch überzeugt, dass Israel sowohl im Gazastreifen als auch im Libanon Phosphorbomben eingesetzt hat. Diese sind laut Völkerrecht nicht generell verboten, doch ihr Einsatz aus der Luft in bewohnten Gebieten wird als „unterschiedsloser Angriff“ gewertet, weil er Zivilist*innen unverhältnismäßig gefährdet.
Verstoß gegen das Völkerrecht?
„Israels Einsatz von weißem Phosphor bei Militäroperationen setzt Zivilisten dem Risiko schwerer und langfristiger Verletzungen aus“, teilte Human Rights Watch am Donnerstag mit. Zuvor hatte bereits der Nachrichtensender Al Jazeera darüber berichtet.
„Weißer Phosphor hat eine erhebliche Brandwirkung, die Menschen schwer verbrennen und Gebäude, Felder und andere zivile Objekte in der Nähe in Brand setzen kann“, so die Organisation. „Der Einsatz im Gazastreifen, einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt, vergrößert die Gefahr für die Zivilbevölkerung und verstößt gegen das Verbot des humanitären Völkerrechts, Zivilisten unnötig in Gefahr zu bringen.“
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