Kran­ken­pfle­ge­nde über HIV-Behandlung: „Wir müssen das Stigma abbauen“

Zoe Longmuss und Volker Wierz arbeiten auf einer Berliner Krankenhausstation, wo viele HIV-Patienten betreut werden. Ein Gespräch über das Virus.

Eine Krankenpflegerin und ein Krankenpfleger stehen in einem Krankenhauszimmer

Zoe Longmuss und Volker Wirtz Foto: Stefanie Loos

Volker Wierz ist seit 1990 Krankenpfleger. Als schwuler Mann seines Alters war er stets beruflich und privat mit der HIV/Aids-Pandemie konfrontiert. Die Pflege von Menschen mit HIV wurde sein Herzensthema, dem er sein Berufsleben widmete. Heute schreibt er Lehrbücher über ihre Versorgung. Zoe Longmuss ist seit 2022 Krankenpflegerin und war im Rahmen ihrer Ausbildung als field worker in Südafrika, wo sie HIV- und Tu­ber­ku­lo­se­pa­ti­en­t*in­nen begleitet und aufgesucht hat. Beide arbeiten auf der infektiologischen Station des St. Joseph Krankenhauses in Berlin-Tempelhof, wo schwerpunktmäßig HIV-Patient*innen betreut werden.

wochentaz: HIV und Aids sind in der Öffentlichkeit kaum noch ein Thema. Haben wir Aids besiegt?

Wierz: Gesamtgesellschaftlich sind bei pro Jahr circa 2.000 Neuinfektionen in Deutschland HIV und Aids im Gesundheitsbereich schon ein Nischenthema geworden. Was gut ist, da wir keine hohen Ansteckungszahlen haben. Pro­ble­ma­tisch ist, dass es nach wie vor auf Menschen geschoben wird, die in der Vergangenheit immer die Hauptbetroffenen waren. Das sind halt schwule Männer, Sexarbeitende und intravenös Drogengebrauchende.

Welche Menschen erkranken denn heute noch an HIV? Wen sehen Sie auf Ihrer Station?

Wierz: Schwule Männer gehen als betroffene Gruppe seit Jahren zurück. Das sehen wir auch hier auf Station. In der schwulen Szene gibt es ein gesteigertes Bewusstsein, und neue Prä­ven­tions­maß­nah­men wie die Präexpositionsprophylaxe, die PrEP, sind relativ verbreitet. Die Erkrankungszahlen unter Heterosexuellen dagegen fallen nicht, sondern stagnieren. Außerdem sehen wir hier viele Menschen mit Migrationshintergrund, aktuell auch öfter Menschen aus der Ukraine. Dort gibt es eine deutlich höhere HIV-Prävalenz.

Longmuss: Viele, die hier auf Station sind, haben zwar HIV als Grunderkrankung, was aber nicht zwangsläufig der Behandlungsgrund ist. Die kommen mit anderen Krankheiten und landen bei uns, weil wir die größte Expertise haben, was HIV angeht. Man ist hier im Kontakt mit Menschen aus allen so­zia­len Schichten. Also, ich kann mittlerweile nicht mehr sagen, das ist nur „die Schwulenkrankheit“ oder das sind nur „die Drogis“. Das geht von wohlhabenden Menschen mit gutem Job, super integriert in die Gesellschaft, bis zu Randgruppen. Es kann einfach jeder betroffen sein.

Es gibt wirksame und gut verträgliche HIV-Medikamente. Warum erkranken Menschen dann überhaupt noch an Aids?

Wierz: Es kommen immer wieder Menschen zu uns mit einer sehr späten Diagnose, da wird die Infektion in einem Stadium festgestellt, wo das Immunsystem bereits beeinträchtigt ist. In diesem Jahr waren 63 Prozent unserer Pa­ti­en­t*in­nen mit HIV-Erstdiagnosen schon in einem Aids-Vollbild. Das heißt, dass da lange keiner auf die Idee kam, einen HIV-Test zu machen.

„Eine Krebsdiagnose gilt als Schicksalsschlag, bei einer HIV-Erkrankung musst du dich dagegen erst mal erklären“

Longmuss: Neben diesen Spät­di­a­gno­sen haben wir eine Gruppe unter den HIV-Positiven, die Schwierigkeiten hat, eine Therapiekontinuität einzuhalten. Das hat viele unterschiedliche Gründe, häufig psychische Gründe, oder der Konsum von Drogen, oder auch finanzielle, wenn die Krankenversicherung fehlt.

Wieso wird oft erst so spät auf HIV getestet?

Wierz: Es ist das Tabu. Ein Beispiel: Ich komme zum Arzt und ich bin eine Frau um die 50, und ich habe keine Drogenkarriere, bin auch keine Sexarbeiterin, habe vielleicht eine geschiedene Ehe hinter mir, zwei Kinder und irgendwelche unerklärlichen Beschwerden. Natürlich wird in der Regel keine ausführliche Sexualanamnese gemacht, das Thema HIV fällt völlig hinten runter. Oft auch aus Angst, man könnte jemandem einen vermeintlich anrüchigen Lebensstil unterstellen. Das Hauptproblem der HIV-Bekämpfung ist, dass das Virus meist sexuell übertragen wird, also in einem Lebensbereich, der sehr sensitiv ist. Eine Krebsdiagnose gilt als Schicksalsschlag, bei einer HIV-Erkrankung musst du dich dagegen erst mal erklären.

Longmuss: Anrüchig finde ich ein richtig gutes Wort. Es ist genau das. Damit bringt man Menschen aber in die Si­tua­tion, dass man Risiken für HIV nicht erkennt.

Welche Fehlannahmen über HIV begegnen Ihnen häufig?

Longmuss: Puh, sehr viele. Etwa, dass sich das Virus über Oralsex und Küsse überträgt; da ist eine große Angst. Und nur wenige wissen, dass auch ungeschützter Verkehr mit behandelten HIV-Trägern unproblematisch ist, jemand also nicht ansteckend ist, wenn die Therapie die Viruslast unter die Nachweisgrenze drückt.

In Ihrem Team haben viele Pflegende bereits seit dem Beginn der Aids-Pandemie die Versorgung in Berlin mit ausgebaut. Das Konzept der Station heißt „Schöneberger Modell“. Was bedeutet das?

Wierz: Von Anfang an ging’s darum, dass alle, die an der Versorgung beteiligt werden könnten, an einen Tisch geholt werden. Zu Beginn waren das niedergelassene, meistens schwule Ärzte, weil sie sich am Anfang des Themas HIV angenommen hatten. Auch oft aus einer eigenen Betroffenheit heraus. Und das war die Berliner Aids-Hilfe. Wir holen auch So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen von Anfang an mit ins Boot, um beispielsweise jemanden wieder ins Versicherungssystem zu bekommen. Wir versuchen jeden Patienten individuell anzuschauen: Was braucht er, damit die Therapie klappt?

Sie pflegen in einem katholischen Krankenhaus und haben eine große queere Patientenklientel. Passt das zusammen?

Wierz: Interessanterweise sehr gut. Dieses Haus ist so offen für die ganze Thematik. An keinem Punkt hatten wir Schwierigkeiten. Wir haben in unserem Haus auch einen Orden. Und wir haben eine Ordensschwester, Schwester Agnes, die kommt so gerne zu unseren Patientinnen, um sich mit denen zu unterhalten.

Longmuss: Bruder Bernd auch, unser Seelsorger.

Wierz: Die nehmen unsere Patienten einfach an, da wird nicht nach Lebensweg und Religion gefragt. Wir haben auch eine lange Tradition in der Zusammenarbeit mit den Franziskanerinnen von Tauwerk, einem Hospizdienst für Aids-Erkrankte. Hier in Berlin sind katholische Kirche und HIV-Arbeit schon seit Jahrzehnten vernetzt. Auch die Community der Menschen mit HIV in Berlin weiß davon.

Welche Patientengeschichten können Sie nicht vergessen?

Wierz: Mein erstes prägnantes Erlebnis war 1991, als ich frisch auf die Station kam, die damals noch im Auguste-­Viktoria-Klinikum angesiedelt war. Ich war in meinen 20ern. Da gab’s einen Mann, Anfang 40. Er kam mit einer schweren Lungenentzündung, die er wegen HIV entwickelt hatte. Es war schnell klar, dass er die nicht überleben wird. Das war das erste Mal, dass ich einen so jungen Menschen begleitet hatte und auch habe sterben sehen. Seine Verzweiflung, warum er so jung sterben muss und nicht weiterleben darf. Dann fand ich es so beeindruckend, als er irgendwann sagte: Ach, wäre ich doch nicht schwul, dann könnte ich weiterleben. Das fand ich unglaublich ergreifend. Weil ich dachte: Du bist doch nicht krank, weil du schwul bist, sondern hast dir einfach ein Virus geholt. Aber damals, in den 1980ern, war das die Sichtweise, es wurde ja häufig gesagt: Das ist die gerechte Strafe Gottes für so ein Verhalten. Aber wie das auch schwule Männer zum Teil verinnerlicht haben! Internalisierte Homonegativität nennt man das, die gesellschaftlichen Vorurteile so zu verinnerlichen. Was dem eigenen Selbstwertgefühl die Beine weghaut.

Neben der täglichen Arbeit auf Station waren Sie auch im eigenen Freundeskreis betroffen.

Wierz: Genau, als schwuler Mann war ich immer mitten an der Front, so nenne ich es mal. Ich erinnere mich noch, wie ich meinem Vater mal von einem weiteren toten Freund erzählt habe, und er sagte daraufhin: Du lebst in einem Krieg. Er dachte an seine Kriegszeit zurück, als junger Mann, als er immer wieder hörte, dass seine Freunde an der Front gefallen waren. Für mich war das ein treffendes Bild, das war der Aids-Krieg, der sich massiv gegen uns gerichtet hatte.

Es gab 1987 die ersten Therapiemöglichkeiten. Wie muss man sich das vorstellen, diese ersten Hoffnungsschimmer?

Wierz: Die ersten Therapieversuche waren ein enormer Lichtblick, aber leider nicht alle erfolgreich. Erst 1996 mit der Einführung der Kombinationstherapien gingen die Sterbezahlen radikal runter. Es gab einen Anstieg von Lebenszeit, am Anfang nicht unbedingt gepaart mit einer guten Lebensqualität. Die ersten Therapien waren schon Hardcore. Aber das hat sich sukzessive verbessert. Heute sehen wir, dass die Leute die Medikamente sehr gut vertragen, dass sie keine Einschränkungen haben, wenn sie rechtzeitig anfangen, und dass sie eine nahezu normale Lebenserwartung haben.

Longmuss: Ich denke oft an eine Patientin, als ich gerade am Ende meiner Ausbildung war, eine junge afrikanische Frau in den 30ern, die eine dreijährige Tochter hatte, bildsüß. Eine Frau mit Fluchterfahrung. Sie hat immer wieder aufgehört, ihre HIV-Medikamente zu nehmen, und dann ging es ihr prompt schlechter. Das war eine richtige Gratwanderung, sie immer wieder zu motivieren. Es gab eine massive kulturelle Barriere. Ihre Angehörigen hatten eigene Therapievorstellungen, und die Frau selbst hatte einen alternativen Heiler.

Wierz: Sie war skeptisch unserer Therapie gegenüber.

Longmuss: Sehr skeptisch. Ich habe sie lange begleitet. Von einer ausgezehrten Frau, die klingelt, weil sie Hilfe braucht, sich im Bett ein wenig zu drehen, bis dahin, dass sie am hohen Gehwagen wieder selbstständig laufen kann. Einmal haben wir in der Sonne gesessen, als sie gesagt hat, dass sie sich freut, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen und für ihre Tochter da zu sein. Und dann wieder dasselbe Spiel. Warum hat sie immer wieder die Medikamente abgesetzt? Sie ist letztlich an HIV gestorben. Das war eine krasse Erkenntnis für mich: Auch mit all unseren Ressourcen können wir so tief verankerte Ängste und Stigmata nicht überwinden.

Wierz: Was uns wichtig war in dieser ganzen Zeit: dass wir zu keinem Zeitpunkt Stress gemacht haben. Also: Wenn du hier behandelt werden willst, musst du aber mitmachen nach dem Motto „Friss oder stirb“ – das gibt’s bei uns nicht.

Longmuss: Ein anderer Fall ist eine junge Patientin, die nie die Chance hatte, mit uns über ihre Therapie zu reden, weil ihr Verlauf so rasant war. Das war eine junge Mutter aus der Ukraine, die Diagnose kam so spät, sie bekam eine aufsteigende Lähmung, es war nichts zu machen. Es gab keine Therapieoptionen mehr, und sie ist bei vollem Bewusstsein irgendwann gestorben, das war schrecklich: zu wissen, du hinterlässt kleine Kinder und man hätte es verhindern können mit einer frühen Diagnose.

Wo gibt es denn das größte Potenzial, in der HIV-Versorgung etwas zu verbessern?

Wierz: Das Stigma. Wir müssen das Stigma abbauen. Wenn Menschen nicht mehr Angst haben, aufgrund einer HIV-Infektion diskriminiert zu werden, würden sie sich auch eher testen.

Longmuss: Es sollte Weiterbildungen für medizinisches Personal geben. Es ist unglaublich, was da an Fehlinformationen vorliegt, zum Teil auf dem Stand der 1980er, wenn wir hören, dass jemand beispielsweise keine zahnärztliche Behandlung bekommt wegen HIV, dass nur am Tagesende OPs stattfinden, weil man angeblich den ganzen Raum desinfizieren und zwölf Stunden stilllegen müsste. Außerdem: viel zu viel persönliche Schutzausrüstung beim Transportdienst, der dann Kittel, Handschuhe, Mundschutz und Augenschutz trägt. Oder Patient*innen, die erzählen, dass in ihrer Reha-Einrichtung ihre Wäsche nicht mit der der anderen gewaschen werden darf.

Wierz: Es ist ein Teil der Versorgungsstruktur von früher verloren gegangen. Es gibt in Berlin nur noch ein Pflegeteam, das auf HIV-Pflege spezialisiert ist. Und Pflegedienste lehnen HIV-Patienten oftmals ab. Die sagen, das sei für ihre Mitarbeiter nicht zumutbar. Oder dass sie keine Einzelzimmer haben. Einzelzimmer wegen HIV! Oder Fälle, wo Menschen nicht an Gemeinschaftsverpflegung teilnehmen dürfen, weil sie angeblich Menschen anstecken könnten während der Mahlzeit. Es gibt so viele irrsinnige Ansichten.

Das ist paradox, einerseits geht es Menschen mit HIV heute deutlich besser, andererseits ist die Versorgung schlechter.

Wierz: Ja, dadurch, dass wir deutlich weniger Aids-Erkrankungen haben, ist dieser spezifische Aspekt der Versorgung oft gar nicht mehr so notwendig. Heute haben wir die Situation, dass die Menschen mit HIV lange leben. Sie werden alt, werden zum Beispiel dement, das heißt, sie brauchen eine normale Pflege. Sie haben nur ein Manko: Sie haben HIV. Ich telefoniere manchmal tagelang rum, um eine Einrichtung zu finden, die diese armen Menschen in ihre Obhut nimmt. Ich bin so froh über junge Menschen wie Zoe, die sich hier engagieren. Von unserem Team geht in den nächsten Jahren die Hälfte in Rente, viele haben diese Arbeit dann 30 bis 40 Jahre gemacht. Wir wollen einfach, dass das weitergeht.

Longmuss: Ich habe echt Bauchschmerzen, wenn ich daran denke, wer eure Lücken füllen soll.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.