Kosmetik im Direktvertrieb: Die Pyramide der Schönheit
Beraterinnen sind oft die Freundinnen, verkauft werden die Produkte in Privatwohnungen: Die Kosmetikmarke Mary Kay ist ein Hit auf dem Land.
I ch erinnere mich noch gut daran, wie ich auf meine erste Mary-Kay-Party ging. Ich war um die 16 Jahre alt, und die Kosmetikmarke boomte in meinem in Niedersachsen gelegenen Dorf. Wie meine Pickel sprießten überall Botschafterinnen für Mary Kay hervor, die die Produkte an die Frau bringen sollten. Meine hormonlädierte Haut und das mit der Pubertät schwindende Selbstbewusstsein machten mich zum perfekten Zielobjekt.
In Sachen Hautpflege waren meine Freundinnen und ich bislang auf die örtliche Drogerie angewiesen. So unsicher wie deren Träger – Schlecker, Budni, Ihr Platz und letztendlich der Mann hoch zu Ross – war der Griff in ihre Regale. Eine Beratung war eher unangenehm, handelte es sich bei den Mitarbeitenden doch oft um die Mutter irgendeines Marcels aus dem Dorf, mit dem man entfernt verwandt ist.
Ein wenig mehr Anonymität war im Douglas in der Kleinstadt gegeben, in der ein paar von uns zur Schule gingen. Der Schminkrand und die skeptische Miene der Mitarbeitenden waren allerdings eher abschreckend und wir investierten unser Geld lieber im Schnellimbiss „Buby’s“ ein paar Meter weiter.
Mary Kay kam uns so gesehen recht gelegen. Es ersparte uns, kostbare Zeit mit der Bildung über Hautpflege zu verbringen, gleichzeitig mussten wir unsere angreifbaren Körper nicht in irgendein Geschäft bewegen. Das Erfolgsrezept der Kosmetikfirma liegt in seinem Direktvertrieb und der Marketing-Strategie. Sogenannte Beauty-Consultants oder „Schönheitsberaterinnen“ laden Freundesfreundinnen, Familie et cetera zu quatschigen Runden ein, in denen die Produktpalette präsentiert wird. Läuft alles gut, wird nicht nur viel verkauft, es werden auch neue Verkäuferinnen ins Beauty-Boot geholt. Davon profitiert dann die Schönheitsberaterin durch Provision und Boni. Und wir. Zumindest war das die Idee.
Meine Freundinnen und ich versammelten uns an jemandes Küchentisch, in der Mitte Käse-Weintrauben-Spieße und Schokolade. Nach anfänglichem Geplauder ging es ans Eingemachte. Unsere Schönheitsberaterin des Abends war die Freundin einer Freundin. Sie hatte genug Distanz, als dass wir ihre Kompetenz nicht infrage stellten; genug Nähe, als dass wir uns nicht zu sehr schämten zu zeigen, wie wenig Ahnung wir von Kosmetik hatten. An jedem Sitzplatz hatte unsere Beraterin Produkte aufgebaut, damit unsere Käsefinger „was zum Anfassen“ hatten. Mit hochgezogenen Augenbrauen wartete sie, bis wir beschlossen, die Klappe zu halten, dann ging es im Uhrzeigersinn. Der Reihe nach waren wir dran, unsere Hautpflege-Sünden zu offenbaren und uns voneinander und von der Beraterin verurteilen zu lassen (damit uns dann Abso-Lotion verkauft werden kann).
Direktvertriebsmodelle, Netzwerkmarketing oder auf Englisch auch Multi-Level-Marketing, macht sich nicht nur Mary Kay zunutze. Eine der berühmtesten Firmen, die mit dieser Methode arbeitet, ist die US-Firma Tupperware, die seit den 50er Jahren auf den „Tupper-Partys“ ihre luftdicht abschließbaren, elastischen Kunststoffdosen verkauft.
Weil die Partys während der Coronazeit verboten waren, vor allem auf dem wichtigen chinesischen Markt, geriet das Unternehmen in eine Schieflage. Derzeit steht es vor der Insolvenz.
Mary Kay dagegen ist gut weggekommen, auch weil die Firma ihre Geschäfte ins Internet verlagert hat. „Wir bei Mary Kay sind fest entschlossen, Unternehmerinnen in den Mittelpunkt der digitalen Transformation zu stellen“, erklärte das Mary-Kay-Management zum Internationalen Frauentag 2023.
Die Namenspatronin der Firma, Mary Kay Ash, erlebte der Firmenlegende nach Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz, weil sie eine Frau war. Als Akt der Rebellion beschloss sie Anfang der 60er Jahre, eine Firma ins Leben zu rufen. In ihrem Unternehmen sollten andere Werte gelten. Frauen sollten in ihrer Unabhängigkeit bestärkt und individuell gefördert werden. „Mary Kay Ash wusste schon immer, dass eine Frau alles schaffen kann“, heißt es auf der Website der Firma.
Weitere Firmen, die mit der Methode des Direktvertriebs arbeiten, sind die Putzmarke Prowin Winter, der Küchenartikel-Vertreiber Pampered Chef und, nicht zu vergessen, Vorwerk mit der Hightech-Küchenmaschine „Thermomix“. Mit illegalen „Schneeballsystemen“ will diese Branche nichts zu tun haben.
Als meine Sitznachbarin Monika gestand, sie schminke sich nicht jeden Abend ab und benutze Kernseife auf ihrer zarten Gesichtshaut, schnappte die Beauty-Expertin nach Luft. Es war, als würde sich die arme Monika die Visage mit einem Ziegelstein peelen. Dass sie im Gegensatz zu mir nicht einmal Pickel hatte, sorgte für allgemeine Verwirrung.
Ich selbst hasste den Anblick meiner „unreinen“ Haut bereits genug, um mir regelmäßig, intensiv und aggressiv die oberste Hautschicht mit stinkender Clearasil-Tinktur abzurubbeln. Der Zeitaufwand fand zwar Anerkennung, eigentlich war aber auch egal, was genau gesagt wurde. Denn obwohl unsere „Routinen“, sofern es sie denn gab, unterschiedlich aussahen, hatten sie eines gemein: Sie waren falsch.
Nachdem uns also klar gemacht wurde, dass Kernseife, Ziegelstein und Clearasil keine akzeptable Hautpflege darstellten, legte uns die Schönheitsexpertin eine Pflegeserie, bestehend aus vier Produkten, nahe, die besonders auf junge Haut abgestimmt wäre. Es könne simpel gehalten werden, mehr wäre wirklich gar nicht nötig. Also, außer für Sabrina. Die war nämlich schon über 20 und damit geeignet für eine zusätzliche Creme gegen Augenfältchen.
Unsere und jede andere Mary-Kay-Verkäuferin arbeiteten selbstständig. In einem Video, das potenziellen Schönheitsberaterinnen den Verkauf der Produkte schmackhaft machen soll, wirbt Mary Kay mit einer 40-prozentigen Gewinnbeteiligung an allen verkauften Produkten. Weiter heißt es auf der Website: „Sie entscheiden! JETZT ist die Zeit, etwas Neues zu beginnen – werden Sie Ihr eigener Chef!“ Dafür braucht es nur die richtige Girlboss-Attitüde. „Ohne große Anfangsinvestition, ohne Risiko oder Verpflichtung, ohne Haken“.
Die nichtgroße Anfangsinvestition, um Mary-Kay-Produkte verkaufen zu können, beträgt 99 Euro. Dafür gibt es eine Handtasche mit allen Produkt-Rennern und Informationsmaterialien. Möchte man doch keine Schönheitsberaterin werden, nimmt Mary Kay seine Produkte wieder an und man erhält 90 Prozent des Kaufpreises zurück. Die Farbe der Tasche ist, selbstverständlich, rosa.
Tina Preuth, Bäckereifachverkäuferin in dem Ort, an dem wir uns nach diversen Scheunenfeten das obligatorische Mettbrötchen einverleibten, ist seit Oktober Schönheitsberaterin für Mary Kay. Ich esse kein Mett mehr und lebe woanders – darüber, wie das Kosmetikbusiness für Preuth ist, sprachen wir am Telefon. Sie ist Mutter zweier kleiner Kinder, das älteste kommt bald zur Schule. Ihr Ehemann arbeitet Vollzeit bei einem Lohnunternehmen. Die Produkte kenne sie schon seit Jahren, auch durch ihre Familie. Ihre Cousine sei ebenfalls Verkäuferin der Kosmetikreihe. Nun organisiert Preuth selbst Partys. Da sie in Teilzeit angestellt ist, kümmert vor allem sie sich um die Kinder.
Seit ich in „der Stadt“ lebe, ist auch Mary Kay aus meinem Dunstkreis verschwunden. Zumindest gefühlt sind die Beauty-Marke und ähnlich aufgebaute Systeme mit Direktvertrieb und Network-Marketing ein Dorf-Ding. Allein in meiner Heimatgemeinde gibt es sieben Schönheitsberaterinnen und unzählige Vertreiberinnen anderer Produktserien: Prowin, The Pampered Chef und natürlich Tupper sind nur ein paar Beispiele. Auffällig ist, dass es sich bei den Verkäuferinnen fast ausschließlich um Frauen handelt. Nicht nur bei Mary Kay, wo die Firma alles auf das Frau‑Sein und die Erfolgsgeschichte seiner Gründerin gemünzt hat.
Unbezahlte Haushaltsarbeit und Kinderspucke bleiben auch heute mehrheitlich an den Müttern kleben. So auch im Fall von Tina Preuth. Ihre eigene Mutter unterstützt sie zwar, wenn sie arbeiten muss, mit zunehmendem Alter werde das allerdings nicht leichter. In Preuths aktuellem Job sei nur wenig Flexibilität möglich. Als selbstständige Schönheitsberaterin sehe das anders aus. „Bei Mary Kay kann ich mir alles so einteilen, wie ich möchte.“ Attraktiv, insbesondere für Menschen mit Kindern, ist daneben der niedrigschwellige Einstieg in das Beauty-Business. Eine zusätzliche Ausbildung ist nicht notwendig; alle Produktanleitungen und Informationen zur Gestaltung der Partys finden sich in den Schulungsmaterialien und online.
An Mary Kay schätzt Tina Preuth jedoch weit mehr als nur die zeitliche Ungebundenheit. Schon zu Schulzeiten sei sie sehr ängstlich, fast panisch gewesen, wenn sie vor anderen sprechen sollte. Schwitzige Hände vor Referaten waren dabei das geringste Übel. Als Teil eines Netzwerkes, das ihr neben fachlichem Support Zuspruch und Anerkennung spendet, habe sie nun ein ganz neues Selbstbewusstsein entwickeln können.
Die Mary-Kay-Beauty-Expertinnen sind selbstständig und verfügen über ein Team, das sich jede Beraterin aufbauen kann. Der Verkauf von Produkten und die Akquise neuer Teammitglieder passieren im Bestfall in einem Rutsch auf den Beauty-Partys. Die einzelnen Teams werden dann wiederum von einer Direktorin betreut. Die Hierarchien ergeben sich aus der Anzahl der Teammitglieder, für die man verantwortlich ist. Je mehr Schönheitsberaterinnen, desto höher der Status und die Provision auf die verkauften Produkte.
Mit ein bis zwei Teammitgliedern bist du Senior Consultant, mit drei bis vier Mitgliedern wird man Star Recruiter und verdient vier Prozent der erzielten Gewinne. Ab acht Teammitgliedern bist du künftige Direktorin, erhältst zwölf Prozent von den Gewinnen deiner Mitglieder und einen Firmenwagen. Für den Direktorinnenstatus qualifizieren sich Schönheitsberaterinnen ab einer Anzahl von mindestens 28 Teammitgliedern. „Das ist wirklich das Beste, was mir passieren konnte“, sagt Tina Preuth über ihren jetzigen Nebenjob als selbständige Mary- Kay-Beraterin. Sie hofft ihr Business in Zukunft weiter auszubauen.
Der Charme einer Gruppe, die dich unterstützt, offenbart sich nicht nur unter Schönheitsberaterinnen. Für mich bedeuteten die Beauty-Partys, neben der unrealistischen Aussicht auf porentiefreine Haut, eine willkommene Abwechslung zu regulären Events in meiner Gemeinde. Kein Fußballspiel, keine Scheunenfete, kein Schützenfest. Eine Möglichkeit, Premium-Zeit mit meinen Freundinnen zu verbringen und sich fernab des Internets vermeintlich oberflächlichen Themen wie Hautpflege zu widmen. Ein weiter Vorteil war, dass das Ganze isoliert und unkommentiert von Andersgeschlechtlichem blieb. Ein bisschen subkultureller Safer Space und das harmlosere Pendent zu schwierigen Stammtischrunden.
Der Zenit meiner eigenen Mary-Kay-Party-Erfahrungen wurde erreicht, als unsere Schönheitsberaterin die Gastgeberin schminkte. Die beiden platzierten sich mittig im Raum, ringsum meine Freundinnen und ich, die wir andächtig mit den Zahnstochern der Käsespieße in unseren Zahnzwischenräumen pulten. Gebannt sahen wir zu, wie Pickel abgedeckt, Lider verglitzert und Lippen bemalt wurden. Die Transformation zum ultimativen Girlboss. Freiwillig und locker erzählte uns die Schönheitsberaterin währenddessen, dass es sehr wichtig sei, sich auch mal herauszuputzen. Um sich später wieder gründlich abzuputzen, verstehe sich. Der Seitenhieb galt Kernseifen-Moni. In einem Nebensatz erwähnte unsere Beauty-Expertin außerdem, dass der Vertrieb der Produkte eine ganz tolle Möglichkeit auf einen Nebenverdienst sei. Wir kämen ja schließlich auch bald in ein Alter, in dem man über Kinder nachdenke. Ein Taschengeld käme da gelegen.
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Am Ende gingen meine Freundinnen und ich mit den sogenannten Basics der Hautpflegeprodukte und einem Glitzerlidschatten nach Hause. Die Aussicht auf Selbstverwirklichung mit Mary Kay hatte wahrscheinlich keine von uns. Vielleicht mussten wir dafür erst in das Alter für Augenfältchen-Creme kommen. Was wir hatten, war die Erinnerung an einen netten Abend, Holzsplitter zwischen den Schneidezähnen und die leise Versuchung, am Abend zum Seifenblock zu greifen – nur für den Vergleich.
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