Konservative in Großbritannien: Keine Zweifel in Manchester
Auf ihrem Parteitag diskutieren die Konservativen über den Brexit und die Pandemie. Die aktuelle Versorgungskrise ist kein Thema.
Es ist der erste Parteitag der Tories seit der Coronapandemie und damit auch seit dem Wahltriumph von Ende 2019. Die blaue Partei, die sich immer als Partei der Unternehmen verstand, will mit der Wiederaufnahme des „normalen Lebens“ nach der Pandemie endlich über den Kern ihrer Politik unter Boris Johnson und innerhalb des nun unabhängigen Vereinigten Königreichs sprechen. Das Motto des Parteitags ist bewusst nach vorne gerichtet: „Build back better, getting on with the job“ – besser wiederaufbauen, die Arbeit erledigen.
Zugleich aber findet der Parteitag inmitten einer Versorgungskrise statt, von deren Bewältigung die Zukunft der Regierung abhängen könnte. Die Erdgasspeicher sind praktisch leer, es gibt massive Lieferprobleme beim Benzin und teilweise leere Regale in Supermärkten, und das folgt auf die fehlende klinische Schutzkleidung zu Beginn der Coronapandemie.
Während im Norden des Landes die Benzinversorgung sich inzwischen wieder verbessert hat, stehen viele Tankstellen in London immer noch leer. Die Regierung hat inzwischen versucht, mehr in den Süden des Landes zu bringen, auch wenn viele Tankwagenfahrer der Armee immer noch auf einen Einsatz warten und der Aufruf an Lkw-Fahrerinnen im Ausland bisher nur zu 127 gewährten Arbeitsvisa geführt hat.
10.000 Metzger*innen fehlen
Auswirkungen dieser Krise sieht man schon, bevor man überhaupt den Parteitag erreicht. Vor dem Konferenzzentrum steht eine Gruppe von Demonstrant*innen in Schweinekostümen. „Uns fehlen Metzger, die die Tiere schlachten können“, berichtet Charlie Dewhirst vom Schweinezüchterverband NPA inmitten der Schweinchengruppe. „Es ist Arbeit, die niemand machen will, und deshalb stammten bisher die meisten dieser Arbeitskräfte, 80 Prozent, aus Osteuropa. Wegen dem Brexit gibt es nun keine neuen Arbeitsvisa, und so fehlen uns 10.000 Metzger*innen.“ Nun müssten eventuell bis zu 150.000 Tiere gekeult werden.
Auf Nebenveranstaltungen rund um den Parteitag tragen Wirtschaftsvertreter ihre Probleme vor. Ian Wright, Chef des britischen Lebensmittelverbandes (Food and Drinks Association), war schon vor dem Brexit gegen das Ende der EU-Freizügigkeit. Auch jetzt schimpft er, dass die Regierung ihn ernst nehmen und Zuwanderung erleichtern solle. „Unsere Industrie ist mehr wert als die Flug- und Autoindustrie“, warnt er einen Vertreter des Handelsministeriums.
Doch wer glaubt, die Parteitagsdelegierten drinnen wollten über diese Themen sprechen, irrt. Die Schuld liege bei globalen Problemen oder bei der Pandemie und nicht bei der Regierung, heißt es auf Nachfrage.
Die über 70 Jahre alte Hillary Fryer aus Leicestershire findet, es sei jetzt nach der Pandemie einfach die Zeit gekommen, sich vom gewohnten Lebensstandard zu verabschieden und den Gürtel enger zu schnallen.
Chris Loder, Unterhausabgeordneter für den ländlichen Wahlkreis West Dorset, will in den Mängeln Positives erkennen, da so bessere Beziehungen zur Landwirtschaft vor Ort aufgebaut werden könnten. Kommunalpolitikerin Gloria Opara aus Medway südöstlich von London gesteht immerhin ein, dass die Engpässe bestehen, kontert jedoch sofort, dass das Land nun endlich seine eigenen Gesetze machen könne. Ihre jüngere Kollegin Elizabeth Turpin meint, es brauche einfach Zeit, die eigenen Leute an Jobs zu lassen, die vorher billige Arbeitskräfte aus dem Ausland erledigten.
Großbritannien in der „Übergangsphase“
Damit vertritt sie genau die Regierungslinie, dass sich das Land in einer „Übergangsphase“ befinde: weg von der millionenfachen Einwanderung von Billigarbeitern hin zur Hochlohnökonomie mit den eigenen Leuten. Unter Johnson stehen die Konservativen quer gegenüber den Forderungen der Industrie, den Mangel an Arbeitskräften durch billige Arbeitskräfte aus anderen Ländern zu lösen, ohne die Arbeitsbedingungen und Löhne zu verbessern.
Die Konservativen sprechen jetzt von höheren Löhnen, von mehr Bildung, die Steuerquote wird 2022 auf das höchste Niveau seit den 1980er Jahren steigen, auch die Unternehmenssteuern gehen nach oben. Bis 2035 soll alle Energie des Vereinigten Königreichs zu 100 Prozent „sauber“ gewonnen werden, wozu nicht nur Offshore-Windparks zählen, sondern auch Atomkraft. Und noch ein Akzent erscheint in allen Debatten: die Ausweitung der Dezentralisierung.
Die 50-jährige Apothekerin Alia Arif aus der britisch-pakistanischen Community im nordenglischen Stockport ist seit einem Jahr bei den Konservativen, davor war sie jahrzehntelang Labour-Mitglied, bis sie unter Parteiführer Jeremy Corbyn aufgrund des Antisemitismus austrat. Würde sie jetzt zu Labour zurückgehen, wo Keir Starmer mit dem Corbyn-Erbe aufräumt? „Nein, ich bleibe auch mit Starmer bei meiner Entscheidung“, bekräftigt sie und gibt sich positiv überrascht über die Diversität bei den Konservativen.
Der alten Hillary Fryer gefällt Johnsons Stil. Sie glaubt, dass Margaret Thatcher heute nicht mehr ins Bild passen würde. Andere fragen sich jedoch, was wohl aus den alten konservativen Werten geworden ist. „Für konservative Politik standen immer der Glaube an die freie Marktwirtschaft, die Selbstverantwortung, ein eher kleiner Staatsapparat und niedrige Steuern und dass die einzelnen Länder des Königreichs gemeinsam eine Nation darstellen“, sagt der 38-jährige Rechtsanwalt Jaspal Chhokar aus Beaconsfield. Nicht Labour, eher die Liberaldemokraten hält er deswegen für gefährlicher für die Konservativen im wohlhabenden Süden Englands.
Für die Bezirksrätinnen Elizabeth Turpin und Gloria Opara aus Medway könnten Vorhaben, den Wohnungsbau zu forcieren, die konservative Vorherrschaft aufs Spiel setzen, denn dafür müssten in geschützten Grüngebieten Baugenehmigungen erteilt werden.
Kürzung auf Kosten der Ärmsten
Ed Píška ist mit 21 Jahren einer der jüngsten Delegierten in Manchester. Auch er findet, die Partei müsse aufpassen, im Süden nichts zu verlieren. Dennoch glaubt er, dass die konservative Politik kompetent und seriös wirke. Besonders gefallen ihm die neue Außenministerin Liz Truss und die streitbare Innenministerin Priti Patel – zwei Namen, die auch von anderen positiv genannt werden.
Patels Ankündigung einer Untersuchungskommission über die Umstände der Ermordung von Sarah Everard durch einen Polizisten wird begrüßt, ebenso die Strafverschärfungen für Klimaaktivist*innen, die mit Straßenblockaden fast täglich irgendwo den Verkehr aufhalten.
Viel Lob gibt es auch für Finanzminister Rishi Sunak, den Medien immer wieder als möglichen zukünftigen Rivalen Boris Johnsons ins Spiel bringen. Er hat mit dem britischen Covid-19-Unterstützungsprogramm während der Pandemie fast das ganze Land auf Staatskosten unterhalten und ist entsprechend beliebt. Doch trotz dieser Großzügigkeit steht Sunak derzeit auch negativ im Rampenlicht. Píška ist nicht glücklich mit der beschlossenen Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge zugunsten des Gesundheitswesens, „weil gerade jüngere Menschen mit diesen Extrakosten leben müssen“.
Auf massive Kritik stößt vor allem, dass Sunak die pandemiebedingte Sondererhöhung der sozialen Grundsicherung „Universal Credit“ um wöchentlich 20 Pfund (23,50 Euro) soeben wieder rückgängig gemacht hat – eine Kürzung auf Kosten der Ärmsten just in einer Zeit stark steigender Energiepreise. Es gibt eben doch Unterschiede zwischen Konservativen und Opposition.
Auf einer Nebenveranstaltung zu dem Thema ist John Glen, Staatssekretär im Finanzministerium, isoliert. Von allen fünf anderen Podiumsgästen, darunter die Leiter der Thinktanks Bright Blue und Demos und eine Finanzjournalistin von Johnsons Hauszeitung Daily Telegraph, muss er sich massive Ablehnung anhören. Er antwortet: Zu versuchen, die Regierung umzustimmen, sei zwecklos.
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