Großbritannien lockert Einwanderungsbegrenzung: Tank leer, Schnauze voll
Die Debatte über Lkw-Fahrer*innen in Großbritannien geht weiter. Außerdem sorgt ein Gerücht für Hamsterkäufe an Tankstellen.
Dieses Schauspiel wiederholt sich an diesem Wochenende vielerorts im Vereinigten Königreich und führt zu Schlägereien und Wucherpreisen. Sogar Krankenwagen konnten nicht volltanken, während Videos in sozialen Netzwerken zeigen, wie manche Autofahrer gleich mehrere Reservekanister füllen.
Ausgelöst hatte diesen Zustand, der an die Hamsterkäufe von Toilettenpapier zu Beginn der Coronapandemie erinnert, eine sich wie ein Lauffeuer verbreitende unbestätigte Meldung, die angeblich vom Ölkonzern BP stammte: Ein Mangel an Lkw-Fahrer*innen könnte zu Lieferproblemen an den Tankstellen führen. Die Regierung dementiert beständig, aber das nützt offenbar nichts.
Am Samstagabend forcierte diese Entwicklung eine Notabänderung der seit dem Brexit bestehenden neuen britischen Einwanderungsbestimmungen für Arbeitskräfte aus dem Ausland.
Die erlauben eigentlich nur die Einwanderung, wenn es sich um einen Facharbeitsplatz mit einem Jahresgehalt von mindestens 25.600 Pfund (etwa 29.900 Euro) handelt; im Gesundheitsbereich beträgt diese Untergrenze 20.480 Pfund (etwa 24.000 Euro). Lastwagenfahren gilt nicht als Facharbeit, sondern als einfache Tätigkeit, die gar nicht für ein Arbeitsvisum in Frage kommt.
Bis Weihnachten können nun laut einer Sonderregel 5.000 ausländische Lkw-Fahrer*innen und 5.500 Arbeiter*innen für die Geflügelindustrie zusätzlich auch ohne Einhalten dieser Mindestverdienstgrenzen eine Arbeitserlaubnis beantragen. So möchte die Regierung von Premierminister Boris Johnson „Weihnachten retten“, wie es in manchen Berichten heißt.
Lieferprobleme frei Haus
Laut dem Arbeitsvermittlungsbüro Reed liegen die Gehälter für Lkw-Fahrer*innen in Großbritannien zwischen 26.000 und 35.000 Pfund im Jahr – allerdings lässt die Not an Fahrer*innen in den vergangenen Monaten das Gehalt mancherorts auf bis zu 50.000 Pfund ansteigen, heißt es. So verdienen die meisten Lkw-Fahrer ohnehin mehr als die Mindestgrenze. Die Sonderregelung stuft das Fahren auch zu einer Fachtätigkeit hoch, für die ein Visum erteilt werden darf.
Schon seit vielen Monaten gibt es im Vereinigten Königreich Lieferprobleme in zahlreichen Wirtschaftsbereichen. Schuld daran hat eine Mischung von Faktoren: immer schlechtere Arbeitsbedingungen, fehlender Nachwuchs, schlechte Bezahlung und der Weggang von Arbeitskräften aus EU-Ländern nach dem Brexit.
Im Lkw-Bereich beklagen Arbeitnehmer als Teil der negativen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte überlange Arbeitszeiten, die beständige Überprüfung des Aufenthaltsorts und Überwachung der Tätigkeit und die Notwendigkeit, in der Fahrerkabine zu schlafen. Dazu kommen zumindest im grenzüberschreitenden Verkehr die neuen wegen des Brexits notwendigen Formalitäten an den Grenzen zur EU. Insgesamt herrscht ein Defizit von etwa 100.000 Lkw-Fahrerinnen, wovon nur ein Bruchteil auf den Wegzug von EU-Bürgern zurückgeführt wird.
Eigentlich wollte die Johnson-Regierung dieses Problem ohne ausländische Zusatzkräfte lösen. Mehr Arbeitsplätze für britische Arbeitnehmer*innen war schließlich eines ihrer zentralen Wahlversprechen und ein Brexit-Gelübde. So wurde die Kapazität der Führerscheinprüfungen erhöht, damit möglichst schnell 50.000 neue britische Lkw-Fahrer*innen auf den Arbeitsmarkt kommen – während der Pandemie fanden lange Zeit gar keine Prüfungen statt.
Sofortige Lösung angeordnet
Mehr wollte die Regierung jedoch nicht tun, obwohl Wirtschaftsverbände wiederholt kurzfristige Verstärkung durch ausländische Arbeitskräfte noch vor Weihnachten verlangten. Noch am Donnerstag wurden diese Rufe von Verkehrsminister Grant Shapps und Innenministerin Priti Patel abgelehnt. Dann machte das Chaos an den Tankstellen diese Position unhaltbar und am Freitag ordnete Premierminister Johnson eine sofortige Lösung des Problems an.
Neben den neuen Visumsregeln schreibt das Verkehrsministerium nun außerdem alle Brit*innen mit Lkw-Führerschein an, um sie ans Lenkrad zu bitten. Sonderkurse mit Fahrlehrer*innen aus der Armee sollen ab sofort Trucker*innen im Schnellverfahren ausbilden.
Andrew Opie vom britischen Einzelhandelsverband hieß die Ausnahmeregelung zwar willkommen, fragte sich jedoch, ob 5.000 ausländische Fahrer*innen genug seien. Allein die britischen Supermärkte benötigten für das diesjährige Weihnachtsgeschäft 15.000 zusätzliche Lkw-Fahrerinnen, sagte er. Marco Digioia vom Verband europäischer Logistikunternehmen bezweifelt, dass sich viele aus der EU bewerben – denn dort bestehe ebenfalls ein Mangel an Lkw-Fahrer*innen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mehr Zugverkehr wagen
Holt endlich den Fernverkehr ins Deutschlandticket!
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Jette Nietzard gibt sich kämpferisch
„Die Grüne Jugend wird auf die Barrikaden gehen“