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Kommentar deutsche TürkeipolitikFreibrief für Erdoğan

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Die Doppelbödigkeit der deutschen Standpunkte ermöglicht dem türkischen Präsidenten, seine Politik ohne jeden Kompromiss durchzuziehen.

Sitzen bequem: Angela Merkel und Recep Tayyip Erdoğan Foto: dpa

R üstungsdeals ja, Abstimmen über die Todesstrafe nein. Asyl für türkische Nato-Offiziere in Deutschland ja, aber den Rückzug der deutschen Luftwaffe aus dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik nein. Und die Nato-Mitgliedschaft der Türkei generell? Nein – so grundsätzlich will die Bundesregierung die Dinge derzeit lieber nicht diskutieren.

Während Kanzlerin Merkel gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Sachen Todesstrafe scheinbar eine „klare Kante“ zeigt, verhandelt ihre Wirtschaftsministerin zeitgleich mit ihrem türkischen Kollegen über einen Ausbau der deutsch-türkischen Handelsbeziehungen.

Passend dazu klagt die Linke im Bundestag, dass die Bundesregierung für die Freilassung des deutschen Journalisten Deniz Yücel viel zu wenig tue. Auf eine entsprechende Anfrage der Linksfraktion antwortete das Auswärtige Amt, dass Sanktionen im Wirtschaftsbereich „nicht zielführend“ seien.

Diese Widersprüchlichkeit, um nicht zu sagen: Doppelbödigkeit der deutschen Türkeipolitik ist es, die es dem türkischen Präsidenten Erdoğan ermöglicht, aller scheinbaren deutschen oder europäischen Kritik zum Trotz seine Politik weiterhin ohne jeden Kompromiss durchzuziehen.

Noch sind keine drei Wochen nach dem wahrscheinlichen Wahlbetrug im Referendum über die Einführung des Präsidialsystems vergangen, da interessiert sich die Bundesregierung bereits wieder hauptsächlich für den Ausbau der deutsch-türkischen Handelsbeziehungen. Panzer für Erdoğan, so könnte man dar­aus schließen, sind am Ende dann eben doch wichtiger als eine freie Presse und die Freilassung von Deniz Yücel.

Die doppelbödige Türkeipolitik lässt den türkischen Präsidenten unbehelligt

Man kann nicht gleichzeitig die Einhaltung von Pressefreiheit, Rechtsstaat und Menschenrechten fordern und auf der anderen Seite die Ausweitung der Zollunion und den Ausbau des bilateralen Handels betreiben – warum sollte sich Erdoğan auch um Kritik kümmern, wenn ihm die Euros weiterhin ins Land rollen –, obwohl die Zahl der politischen Gefangenen im Land täglich zunimmt.

Selbst die vermeintliche „rote Linie“, die bei Wiedereinführung der Todesstrafe angeblich überschritten wird, muss Erdoğan nicht wirklich fürchten. Schließlich, das weiß er ja nun aus Erfahrung, sind substanzielle Sanktionen vonseiten Deutschlands oder der EU nicht zu erwarten.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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18 Kommentare

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  • "Man kann nicht gleichzeitig die Einhaltung von Pressefreiheit, Rechtsstaat und Menschenrechten fordern und auf der anderen Seite die Ausweitung der Zollunion und den Ausbau des bilateralen Handels betreiben"

     

    Doch das geht. Das funktionierte schon unter Willi Brand mit seiner neuen Ostpolitik. Die Türkei-Hardliner von heute klingen nicht viel besser als die Kalten Krieger von vorgestern.

  • Merkel zu kritisieren ist richtig aber auch einfach.

    Wenn die Türkei aus der NATO fliegt reibt sich Putin die Hände...

    Die Erdogan und Graue Wölfe Wähler die noch mehr Verantwortung tragen könnte man auch mal eindeutiger hinterfragen.

    Die wirklich unbequemen Fragen stellt man sich als moralisch überlegener deutscher "Linker" mal wieder nicht:

    Unterstützung von konservativen, rechten, islamistischen Millieus, weils halt "Ausländer" sind...

    Schnittmengen mit eben diesen

    (Ablehnung des dekadenten, imperialistischen Westens usw und so fort.

  • Die Bundesregierung will einerseits die Türkei als Partner möglichst erhalten, andererseits kritisiert sie die Türkei und setzt Grenzen. Das kann man als ineffektiv betrachten und die Zeit wird vielleicht zeigen, ob es eine gute Strategie war. Aber doppelbödig ist es nicht.

     

    Im Gegenteil wäre es heuchlerisch, die NATO-Partnerschaft wegen der Einführung der Todesstrafe infrage zustellen, während die USA eine Todesstrafe haben und der große NATO-Partner sind.

    • @rero:

      Auf jeden Fall hilft eine wirtschaftliche Zusammenarbeit Erdogan beim Ausbau seiner Macht. Denn solange die türkische Wirtschaft nicht wirklich am Boden liegt, wird der Ali-Normal-Türke denken, dass Erdogans Kurs schon der richtige ist, da können die Gefängnisse noch so voll sein und noch so viele Köpfe rollen. Das ist dann alles nur für Sicherheit und Wohlstand.

    • @rero:

      Behauptet die NATO nicht, dass ihre Aufgabe die Verteidigung von Freiheit und Demokratie ist?

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Die NATO verteidigt als Bündnis die Freiheit, gemeint ist aber hier die staatliche Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten, nicht die individuelle Freiheit der Einwohner. Vorsicht, hier gibt es unterschiedliche Definitionen von Freiheit.

         

        Die Verteidigung der Demokratie ist meines Wissens kein Kernpunkt. Es wäre auch komisch, denn die NATO-Mitgliedschaft Türkei wurde auch zu Zeiten der Militärdiktatur nie angezweifelt.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Wer glaubt schon ernsthaft an solch ein Gelaber? Die Nato verteidigt Wirtschaft, Ressourcen und die Einflusssphäre des Westens.

        • @Hoschti:

          verteidigt? Die NATO erobert(!) Wirtschaft, Ressourcen und die Einflusssphäre des des globalen Kapitals

        • @Hoschti:

          Ironie wird manches Mal nicht erkannt. Warum Gelaber ... ?

  • Ca Alors!

    Wird das Bild genauer betrachtet so ist eine ganz und gar "unislamische" und beleidigende Beinhaltung des "Türklerin Lider" zu erkennen. Und kein Hofschranze weist ihn darauf hin oder gar zurecht!

    Sind das etwa erste Zeichen des moralischen Verfalls?

    • @Saccharomyces cerevisiae:

      Lach, kein Wort ohne meine Shisha-Pfeife sage ich immer ...

  • erdo läßt die goldnen sessel nur dann herbeischleppen, wenn seine freundin angie kommt. ansonsten wäre das ja affig.

    • @Gion :

      Ha ha - der war gut!

  • Alles für das trojanische Pferd....

  • 8G
    82236 (Profil gelöscht)

    Und im selben Augenblick wird der Sieg der liberalen Demokratie über die schreckliche Marine Le Pen gefeiert. Aber was hätte die anders gemacht als Erdogan? Die Wiedereinführung der Todedstrafe durch Volksbegehren stand auch in ihrem Wahlprogramm. Der Unterschied, das wil ich mal hier sagen, ist rein wirtschaftlich: Erdogan will rein in die EU und vom Freihandel profitieren und Le Pen will raus aus der EU und Protektionismus. Da sieht man mal, dass fûr die Neowirtschaftsliberalen die Bekämpfung des Faschismus und Rassismus nichts mit moralischen Kriterien zu tun hat, es geht einzig und allein um gute Geschäfte und wer die vermiesen will, der ist böse, sprich Marine Le Pen und wer die fördert, der ist akzeptabel sprich Erdogan.

  • Wie schon mehrfach erwähnt, keiner weiß welche Deals Merkel und unsere Bundesregierung im Hintergrund ohne das Wissen der Opposition und der Öffentlichkeit so mit Erdogan am Laufen hat.

     

    Aus gerechnet Merkel, der ja von aller Welt die Rettung der Freien Welt angediehen wurde, unterhält mit einem Autokraten wie Erdogan eine scheint es uneingeschränkte Beziehung, die ja durch irgend etwas so sehr gefestigt ist, dass selbst schlimmste Beleidigungen unserer Nation und ihrer Person, sie nicht vom anbiedern abhält!

     

    Man sollte sich einmal Gedanken zu dieser Konstellation machen, ob dort nicht irgend welche Ungereimtheiten in den Bilateralen Beziehungen zur Türkei bestehen, die Merkel erpressbar gemacht haben.

     

    Ich bin sicher kein Freund von Verschwörungstheorien, aber welcher Mensch würde sich dieses Gehabe von Erdogan bieten lassen, wenn es nicht einen ganz speziellen Grund dafür gibt.

    Die Ausweitung von Handelsverträgen allein wird es wohl nicht sein, so gut wie Deutschland im Außenhandel aufgestellt ist.

    Selbst die EU ist nicht mehr so sehr an dem Beitritt der Türkei zur Union interessiert, weil die Rechtsstaatlichkeit nicht mehr gegeben ist, aber Merkel und Schäuble scheint diese Kleinigkeit nicht mehr zu interessieren.

     

    Also noch einmal, was hat Erdogan gegen die Bundesregierung, Merkel im speziellen, in der Hinterhand, um so dreist auftreten zu dürfen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen???

    • @urbuerger:

      Ein Grund dafür könnte z. B. der im letzten Jahr ausgeheckte Flüchtlingsdeal sein. Kann mir gut vorstellen, dass der BR eine neue Schwemme von Flüchtlingen, zumal im Wahljahr, nicht gelegen kommt.

  • Das ist jetzt nicht wirklich eine Überraschung, dass die Wirtschaft, insbesondere die Rüstungsindustrie, über allem steht, oder?