Kommentar Wikileaks-Enthüllungen: Danke, NSA
Der US-Geheimdienst hat das Kanzleramt schon in der Ära Kohl bespitzelt. Gut so: Alles andere wäre grob fahrlässig gewesen.
![Tänzer vor ehemaliger Abhörstation auf dem Teufelsberg Tänzer vor ehemaliger Abhörstation auf dem Teufelsberg](https://taz.de/picture/500263/14/teufelsbergnsa09072015_rtr.jpg)
D anke USA, danke NSA. Die Amerikaner bespitzeln das Kanzleramt nicht erst seit der Ära Merkel, auch nicht erst seit Schröder, sondern mindestens schon seit der Amtszeit von Helmut Kohl. Ganz ehrlich: Deutschland und Europa können dem US-Geheimdienst dafür nur dankbar sein.
Als Kohl ins Kanzleramt einzog, war die Rolle der BRD als friedliche Demokratie noch lange nicht gefestigt: Die Wannseekonferenz lag gerade mal ein halbes Menschenleben zurück. Im Bundestag saßen noch ehemalige Mitglieder der NSDAP. Und Richard von Weizsäckers Rede über den Tag der Befreiung, mit der er den Deutschen erstmals eine Debatte über ihre persönliche Schuld an Krieg und Vernichtung aufzwang, war noch gar nicht aufgeschrieben.
Die Alliierten, die bis zur Wiedervereinigung mit Zehntausenden Soldaten auf die Bundesrepublik aufpassten, hatten also gute Gründe für ihr Misstrauen – und die blieben auch nach 1990 bestehen. Nur ein Beispiel: Kurz nach der Wende stimmte eine ganze Reihe von Unions-Abgeordneten gegen den deutsch-polnischen Grenzvertrag, mit dem die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Linie endgültig anerkannte. Den Ostgebieten trauerten einige in Kohls Regierungspartei noch immer nach.
Europas Sorge, das wiedervereinte Deutschland könnte in alte Großmachtfantasien verfallen, war kein Hirngespinst. Was sollten die Amerikaner machen? Sie mussten nachhorchen, ob Kohls Leute wirklich nur blühende Landschaften planen oder nicht doch einen neuen Ostfeldzug. Alles andere wäre grob fahrlässig gewesen.
Die Aufregung über die jüngste Wikileaks-Enthüllung, sie lohnt sich also nicht. Sie lenkt nur ab von den eigentlichen Skandalen: der anlasslosen Überwachung von Millionen Menschen, der mutmaßlichen Wirtschaftsspionage der NSA und ja, auch der Bespitzelung des Kanzleramts in der jüngsten Vergangenheit.
Denn bei aller Kritik an Merkels Griechenland-Politik, Auslandseinsätzen der Bundeswehr oder dem neuen Selbstbewusstsein in der deutschen Außenpolitik: Die Bundesrepublik hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten bewährt. Ein unberechenbares Sicherheitsrisiko für den Frieden in Europa ist sie nicht mehr. Ein berechtigtes Spionageziel also auch nicht.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
RTL Quadrell
Klimakrise? War da was?
Verlierer der Wahlrechtsreform
Siegerin muss draußen bleiben
Absturz der Kryptowährung $LIBRA
Argentiniens Präsident Milei lässt Kryptowährung crashen
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören