Kommentar Videoüberwachung: Kamerafrei ist auch ein Wert
Kameras in der Öffentlichkeit steigern nur bedingt das Sicherheitsgefühl. Sie animieren nicht selten auch zum Wegschauen.
N ehmen wir zum Beispiel eine Bank, da lässt sich das Problem ganz gut eingrenzen: Wenn jemand einen Banküberfall begehen will, dann hier. Eine Verlagerung der Tat an, sagen wir, eine Straßenkreuzung – eher unwahrscheinlich. In einer Bank also könnten Kameras, nach allem, was Forscher über die Wirkung von Videoüberwachung herausgefunden haben, sinnvoll sein.
Das Problem ist: Nur weil Videoüberwachung sich an einem Ort als hilfreich erwiesen hat, ist sie das noch längst nicht überall. Doch genau dorthin geht die Debatte gerade wieder, nachdem sich, wie es aussieht, eine ziemlich brutale Körperverletzung in einem Berliner U-Bahnhof mit Hilfe einer Kameraaufzeichnung aufklären lässt. Prompt fordern die üblichen Verdächtigen mehr Kameras an mehr Orten, samt längeren Speicherzeiten.
Dass Kameras das Sicherheitsgefühl nicht steigern, dass sie eher zum Wegschauen animieren und sich Kriminalität schlichtweg verlagert, ist lange bekannt. Gegen letzteres lässt sich natürlich mit noch mehr Kameras vorgehen und die heute schon unauswertbar großen Datenmengen noch etwas vergrößern. Und dann? Sollen Algorithmen übernehmen? Und wer erklärt denen, was eine aggressive von einer euphorischen Menschenmenge unterscheidet? Und wie vielleicht Jubel in anderen Kulturen aussieht?
Der seit Tagen gesuchte mutmaßliche Berliner U-Bahn-Treter sitzt in Untersuchungshaft. Wie ein Sprecher der Staatsanwaltschaft am Sonntag erklärte, wurde der 27-jährige Bulgare, der eine arglose Frau brutal eine Treppe in einer U-Bahn-Station hinuntergetreten haben soll und dabei gefilmt wurde, inzwischen einem Haftrichter vorgeführt.
Bleibt die Strafverfolgung. Da können Kameras tatsächlich helfen. Die Fragen sind aber: Wäre es womöglich auch anders gegangen? Wäre es nicht sinnvoll, etwas von dem, was in Aufklärung investiert wird, in die Prävention zu stecken? Und was macht es mit einer Gesellschaft, wenn jeder in der Öffentlichkeit ständig das Gefühl des Überwachtseins mit sich herumträgt?
Kameras zu fordern kostet nichts. Die Anbringung nur unwesentlich mehr. Der Wert einer Gesellschaft aber, ohne permanente Überwachungskulisse, ohne den dazugehörigen Konformitätsdruck und der Angst, dass eine Handlung verdächtigt wirkt, ist unbezahlbar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!