Kommentar Südsudan: Vabanquespiel am Nil
Zum ersten Mal entsteht in Afrika ein Staat, der sich nicht an kolonialen Grenzen orientiert. Der Staat ist schwach, die Grenzen unklar – doch erst einmal darf gefeiert werden.
A m 9. Juli wird Südsudan endlich unabhängig. Das steht schon so lange fest, dass die historische Tragweite des Ereignisses verkannt zu werden droht.
Dabei entsteht hier zum ersten Mal ein neuer Staat, der sich nicht an kolonialen Grenzen orientiert, sondern allein am Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für die Gestaltung eines neuen Afrika frei von kolonialen Altlasten, frei von den Strukturen der Unterdrückung, die die europäische Fremdherrschaft hinterließ.
Bisher war es für afrikanische Regierungen undenkbar, dass jemand einen eigenen Staat gründet, um sich aus Unterdrückung zu lösen. Sezessionsversuche nach der Entkolonisierung - Katanga, Biafra - wurden blutig niedergeschlagen. Die Gründung der Republik Somaliland im Nordteil des zerfallenen Somalia 1992 wird bis heute international nicht anerkannt. 1993 entstand das unabhängige Eritrea nach einem erfolgreichen, jahrzehntelangen Befreiungskampf gegen die äthiopische Besatzung. Aber das war eben nicht nur ein Akt der Befreiung, sondern auch eine verspätete Wiederherstellung eines kolonialen Territoriums als eigener Staat. Südsudan hingegen gehörte vor der sudanesischen Unabhängigkeit 1956 zum angloägyptischen Kondominium Sudan.
DOMINIC JOHNSON ist Leiter des Auslandsressorts der taz. Sein Fachgebiet ist Afrika.
Sudans innere Spaltung
Zu Kolonialzeiten waren die nichtarabischen Völker des Südens im Verhältnis zur arabischen Bevölkerungsmehrheit des Sudan rechtlos und wurden entweder als Sicherheitsrisiko bekämpft oder als Forschungsobjekt bestaunt. Auch nach der Unabhängigkeit gab es keine Gleichberechtigung. Nach Jahrzehnten des Krieges und zwei Millionen Toten führt an Südsudans Unabhängigkeit jetzt kein Weg vorbei.
Afrika ist ohnehin politisch in Bewegung. Regimewechsel von innen wie von außen sind längst hoffähig. Der alte postkoloniale Grundsatz, wonach sich ein afrikanischer Staat nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderes einmischt, starb bereits mit dem Sturz des ugandischen Gewaltherrschers Idi Amin durch die Armee Tansanias 1979. Sieben Jahre später eroberte mit der Guerillaarmee des Uganders Yoweri Museveni erstmals ein afrikanischer Rebellenführer eine afrikanische Hauptstadt und ergriff die Macht. Seit diesen beiden Ereignissen ist politische Macht in Afrika nicht mehr unantastbar, und von Kinshasa bis Kairo haben Diktatoren das immer wieder neu am eigenen Leib erfahren müssen. Die Entstehung Südsudans beweist nun, dass es möglich ist, nicht einfach nur Regime auszuwechseln, sondern auch Staaten insgesamt neu zu gründen. Das bedeutet nicht, dass sich jetzt in einem Land nach dem anderen Sezessionsbewegungen nach dem Vorbild Südsudans bilden. Aber das Denkverbot ist weg.
Suche nach dem starken Staat
Trotzdem wäre diese Staatsgründung unter normalen Umständen als Vabanquespiel inakzeptabel. Die Grenzen Südsudans zum Norden sind noch nicht endgültig festgelegt, weite Teile des Staatsgebiets entziehen sich jeder Kontrolle, es gibt bestenfalls Ansätze einer funktionierenden Administration und Infrastruktur. Südsudan 2011 ähnelt in beängstigender Weise Belgisch-Kongo 1960, das ohne Vorplanung in die Freiheit entlassen wurde und sofort ins blutige Chaos stürzte. Die Ermordung Patrice Lumumbas war damals der schaurige Tiefpunkt.
Nur weil der langjährige Rebellenführer John Garang, Südsudans Gegenstück zum Kongolesen Lumumba, bereits seit sechs Jahren tot ist, ist eine solche Entwicklung im Südsudan kurzfristig unwahrscheinlich. Stattdessen droht eine andere, unheilvolle Dynamik. Südsudans Staat ist schwach. Das bisherige Auftreten der Regierung von Präsident Salva Kiir überzeugt die Menschen wenig. Sie ist von auswärtiger Hilfe abhängig – nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch. Denn Unterstützung von außen konzentriert sich zwangsläufig darauf, einen handlungsfähigen Zentralstaat aufzubauen, der ein Gewaltmonopol und visionäre Entwicklungspläne durchsetzt. Wenn das funktioniert, entsteht aber eine Entwicklungsdiktatur, die sich auf die zutiefst undemokratischen, unreformierten und vetternwirtschaftlichen Strukturen der alten Befreiungsarmee SPLA gründet. Für deren Führer ist "Gemeinwohl" ein Fremdwort. Sie leben noch im mentalen Horizont der Zweiteilung zwischen Entbehrung im Heimatland und Absicherung im Exil.
In den Weiten Südsudans herrscht Elend, während die Elite in der Hauptstadt Juba lukrative Geschäftsbeziehungen nach außen pflegt und ihre Familien, Villen und Limousinen in Kampala oder Nairobi in Sicherheit sind. Dieses Luxusleben wird jetzt im boomenden Juba reproduziert, aber es wäre ein schlechter Witz, diese horrend überteuerte Stadt zum Vorbild für den Wiederaufbau Südsudans insgesamt zu erklären.
Neue Kriege verhindern
Schlimmstenfalls droht Südsudan ein Abgleiten in die finsteren Zustände des Garnisonstaates Eritrea, wo die herrschende ehemalige Befreiungsarmee unter Isaias Afeworki die straffste Diktatur des Kontinents errichtet hat. Die fortlaufende Militarisierung und die Abschaffung aller demokratischen Freiräume in Eritrea war ein Nebenprodukt der andauernden militärischen Konfrontation mit der einstigen Besatzungsmacht Äthiopien nach der Unabhängigkeit 1993. Auch Südsudan dürfte in den nächsten Jahren in einem permanenten Kleinkrieg mit dem Norden verharren, weil so viele Streitpunkte zwischen den beiden Teilstaaten noch ungeklärt sind.
Es dürfte sogar im Interesse des Nordens liegen, den Süden mit ständigen Provokationen zum Primat des Militärischen und zur ständigen patriotischen Wachsamkeit zu zwingen, die keinen Dissens dulden kann. Der Weg zu einem Pariastaat à la Eritrea ist vorgezeichnet. Deshalb muss von internationaler Seite alles getan werden, um Südsudan zu schützen und neue Kriege zu verhindern.
Und deshalb ist es trotz aller Probleme richtig, den 9. Juli erst mal einfach zu feiern. Südsudans Unabhängigkeit ist alternativlos und unumkehrbar. Erst wenn dies auch für den Norden klar ist, können die Südsudanesen beginnen, ihren Staat nicht nur auf der Landkarte zu entwerfen, sondern auch nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.
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