Kommentar Schulstreit-Streit: Taktik im Übermaß
Hamburgs Grüne und SPD kasteien sich selbst: Eine sich abzeichnende Einigung bei der Schulpolitik gefährdet erreichten Fortschritt.
D ie Schulpolitik scheint in Hamburg auf eine Art Strafbank gesetzt worden zu sein: Nachdem im Sommer 2010 der Volksentscheid zur sechsjährigen Primarschule knapp verloren ging, entziehen die Spitzen von SPD und Grünen dieses Thema dem öffentlichen Meinungsstreit – zumindest im Wahlkampf.
Die durchgesickerten Punkte, die Rot-Grün vorab mit schwarzer und gelber Opposition regeln will, sind teils erstaunlich kleinteilig. Muss dafür ein „Schulfrieden“ her? Oder könnte den Hamburgerinnen und Hamburgern in der Bildungspolitik nicht eine Wahl gelassen werden?
Der im Hinterzimmer angestrebte Kompromiss zeugt von übertriebener Selbstkasteiung, SPD und Grüne taktieren im Übermaß. Die Regierungsfraktionen wollen CDU und FDP einbinden und pfeifen auf die Linken. Dabei findet sich auch in deren Reihen die Position für gemeinsames Lernen.
Das Gymnasium in seiner jetzigen Form, das Schüler nach Klasse sechs mit Abschulung droht, ist nicht kindgerecht. Die Gymnasiums-Empfehlung schon in Klasse vier ist diskriminierend, denn sie hängt stark ab vom sozialem Background eines Kindes. Und auch das „Turbo-Abitur“ nach Klasse zwölf ist erkennbar nicht der Weisheit letzter Schluss. Wo es aber derart viel Leidensdruck gibt, muss Änderung möglich sein. Warum nicht ein Gymnasium, das seine Schüler hält? Eines, das in der Oberstufe mehr Zeit gewährt – denen, die sie brauchen?
Das Jahr 2010, als Hamburgs Schulpolitik vielleicht wirklich erst mal etwas Ruhe brauchte, ist lange her. Die Lernenden sind deutlich heterogener geworden, gut jeder zweite hat heute Migrationshintergrund. Alle Schulen müssen sich den Anforderungen von Integration und Inklusion stellen. Es spricht nichts dagegen, die Gymnasien mit mehr Personal auszustatten. Nur kann man im Gegenzug dann auch eine bessere Pädagogik erwarten: eine, die keine Kinder abschiebt.
Frieden immer schon löchrig
Sicher: Für die Schulen ist es gut, wenn nicht mit jedem Regierungswechsel ganz neue Regeln gelten. Aber die SPD hat seit 2011 etliche Male das Schulgesetz geändert, dem „Schulfrieden“ zum Trotz – und oft kam sie dabei der Gymnasialklientel entgegen. FDP und CDU haben währenddessen gerne geschimpft wie die Rohrspatzen und allerlei Anträge gestellt. Nun macht die Koalition ihnen in schulpolitischer Hinsicht auch noch den Hof.
Was sich da abzeichnet, gefährdet die fortschrittlichen Aspekte der Stadtteilschulen. Und wenn auch zu vernehmen ist, die Spitzen von Grünen und SPD würden sich durchaus noch sperren gegen die schwarz-gelben Vorstellungen: Sie sollten darüber nicht mal im Hinterzimmer diskutieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin