piwik no script img

Kommentar Proteste in FrankreichDie neue Autoritätsallergie

Rudolf Balmer
Kommentar von Rudolf Balmer

Die Proteste der Gelbwesten und der Frauen haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Gemeinsam ist ihnen das Engagement an der Basis.

Feuer und Flamme dem französischen Präsidenten Macron: die Pariser Innenstadt am Samstag Foto: dpa

W ährend sich am Samstag auf der Avenue des Champs-Élysées noch protestierende Gelbwesten, verstärkt durch Aktivisten von links und rechts, eine Straßenschlacht mit sichtlich überforderten Ordnungskräften lieferten, demonstrierten in Paris gleichzeitig mehrere zehntausend Frauen friedlich, aber nicht weniger entschlossen gegen sexuelle Gewalt und Belästigungen und zur Verteidigung ihrer früher erkämpften Rechte. Mehr denn je findet die Politik in Frankreich auf der Straße statt.

Die beiden Anlässe und Mobilisierungen haben politisch auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Doch gemeinsam ist ihnen das Engagement an der Basis. Aus einem mittlerweile tief sitzenden Misstrauen gegenüber allen Institutionen, Medien, Traditionen und allen bisher als repräsentativ erachteten Organisationen wie Parteien und Gewerkschaften nehmen Bürger und Bürgerinnen ihre Anliegen selber in die Hand.

Die sozialen Netzwerke liefern dazu die Instrumente, sie ermöglichen es, wie vor allem die Bewegung der „Gilets jaunes“ gegen die Treibstoffpreiserhöhungen, aber auch die französischen Feministinnen mit der Weiterführung der #MeToo-Kampagne beweisen, eine große Zahl von Gleichgesinnten zu ­mobilisieren und so öffentlichen Druck zu schaffen.

Dieses Gewicht und diesen Einfluss haben die Parteien und Gewerkschaften weitgehend verloren. Während in anderen Ländern des­wegen rechtspopulistische Bewegungen an die Macht gespült werden, hat in ­Frankreich die Krise der Wahldemokratie (zunächst) diese Form der Autoritätsablehnung angenommen.

Was daraus wird, weiß noch niemand. Die Revolte auf der Straße kann in der Erkämpfung neuer Rechte und einer Erneuerung der Demokratie münden, sie kann aber mit der Diskreditierung der Institutionen auch die letzten Hindernisse für einen Sieg der Populisten beseitigen. Es bliebe dann – nur noch, aber immerhin – der Widerstand auf der Straße.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Rudolf Balmer
Auslandskorrespondent Frankreich
Frankreich-Korrespondent der taz seit 2009, schreibt aus Paris über Politik, Wirtschaft, Umweltfragen und Gesellschaft. Gelegentlich auch für „Die Presse“ (Wien) und die „Neue Zürcher Zeitung“.
Mehr zum Thema

16 Kommentare

 / 
  • "Was daraus wird, weiß noch niemand"

    vielleicht die soziale revolution,auf die wir warten und zu deren vorbereitung wir beitragen wann immer es uns möglich ist .



    die franzosen haben ja schon eine lange erfahrung darin wie man eine revolution macht.



    die was politische kultur angeht hoffnungslos minderwertigen und tendentiell immer reaktionären deutschen haben sich den hartzismus viele jahre fast widerstandlos gefallen lassen.Macron ist mit genau derselben hartzistischen sch... schon nach weniger als einem jahr gescheitert.



    die mehrheit seines volkes hasst ihn als einen präsidenten der reichen .und er wird für das kapital nicht mehr viel bewegen können.







    Helmut Schmidt,den wir zwar weder als person noch als politiker schätzen ,den wir aber für sehr fähig und intelligent halten sprach davon dass europa möglicherweise am vorabend einer sozialen revolution stehe.

    vielleicht wird die geschichte seiner einschätzung recht geben.

    möge es so sein--und möge aus dieser sozialen revolution das europa der zukunft entstehen

  • Die Gewerkschaften sind durchaus noch repräsentativ, als wir 2016 und dieses Jahr gegen die Aushöhlung des Arbeitsrechts und die ersten Schritte Richtung Privatisierung der Bahn demonstriert haben, waren die linken Gewerkschaften (CGT, FO, Solidaire etc) in erster Reihe mit dabei.



    Eine ganze Menge der gilets jaunes haben mit der Linken allerdings nix am Hut.

    • 8G
      82236 (Profil gelöscht)
      @BigRed:

      Was hat's gebracht? Rien!



      Das Arbeitsrecht wurde mit Präsdialverordnungen durch die Nationalversammlung gepeitscht, ohne dass es zu einem Generalstreik gekommen wäre. Die Eisenbahner haben ihren Erfolg von 1995, als sie die Regierung Juppé in die Knie gezwungen hatten, auch nicht wiederholen können. Diese Reform wurde ebenfalls knallhart durchgepeitscht. Opposition und Gewerkschaften wurden als Statisten abgestellt, deswegen gehen die Bürger mit ihrer ganzen Wut und sämtlichen Widersprüchen auf die Strasse. Und dass diese Menschen aus den abgehängten periurbanen Zonen und ländlichen Gebieten mehrheitlich Marine Le Pen gewählt haben, ist nicht der Verdienst von Mme. Le Pen, sondern das Versagen der französischen Sozialdemokratie, die von Hollande, Valls und Macron phagozytiert wurde.



      A propos Valls, der ja jetzt für die Liberalen Ciuadadanos in Barcelona fürs Bürgermeisteramt kandidiert. Sein Wahlkreis in Evry bei Paris wurde neu vergeben. Eine Chance für die France Insoumise einen weiteren Abgeordneten in die Nationalversammlung zu schicken. Die Kandidatin Farida Amrani, Kind dieser Banlieue wurde von Valls rechter Hand geschlagen, weil nur 18% der Wähler zu den Urnen gegangen sind. Die France Insoumise hat es nicht geschafft, die Leute zu mobilisieren, weil diese Leute eben davon ausgehen, dass das nichts bringt Und demonstrieren sind sie auch nicht gegangen.

  • Inwiefern sei es eine "Autoritätsallergie"? Inwiefern richten sich viele grundsätzlich gegen Regierungen? Inwiefern profitieren von den Protesten nicht auch autoritäre Rechte und Linke?



    Dann - inwiefern geht es um ein "Weiterso" (bspw. bequem Auto fahren) als um eine ökologische Mobilität und Umverteilung bzw. Zugänglichkeit zu Allgemeingütern wie Mobilität?



    In u.a. Großbritannien ist der Fokus bspw. ein anderer: da schwärmen Menschen aus Protest gegen aktuelle (Klima)politik auf die Straßen und blockieren diese kurzweilig unter dem Banner EXTINCTION REBELLION. Seltsam, dass die TAZ davon noch nicht berichtete...

  • Während die Profiteure des Systems, ob in Frankreich oder in Deutschland, ständig von Reformen reden, die natürlich in erster Linie die Umverteilung von unten nach oben begünstigen sollen, wird es still, wenn es um demokratischen Reformen geht. Obwohl sich die demokratisch repräsentativen Systeme unterscheiden, sind sie fällig für eine Anpassung an die modernen Erfordernisse einer Gesellschaft, die mehr Mitsprache im Sinne einer direkten Demokratie erwartet.

  • Klar, Randale, Verletzte und brennende Autos sind ja bekanntlich immer ein Zeichen für Engagement an der Basis. Hamburg kann davon ein Lied singen.

  • 8G
    82236 (Profil gelöscht)

    Alle Macht der Strasse...? Das von der Regierung annulierte Referendum von 2005, weil das Ergebnis nicht EU-Konform war, hat in Frankreich ein tiefes Misstrauen gegen die Institutionen hervorgerufen. Spontane basisorientierte Aktionen haben in Frankreich Tradition. So haben die Krankenschwestern von Gewerkschaften unabhängige Streikkommittees geschaffen. Das Beispiel hat Schule gemacht und es ist jetzt auch möglich, einen wilden Streik zu legalisieren, indem ein " Collectif" gegründet wird. Ermöglichen tut das die zersplitterte Gewerkschaftslandschaft, einen Dachverband, wie den DGB gibt es in Frankreich nicht, jeder kocht sein eigenes Süppchen und von Fall zu Fall gibt es dann nach psychodramatischen Verhandlungen mal eine gemeinsame Arbeitskampffront.



    Internet hebelt die behäbige Organisation der Parteien und Gewerkschaften aus und selbst die neuen revolutionären politischen Oranisationsformen wie " la France Insoumise" werden umgangen.



    Eine 6.Republik mit mehr partizipativer Demokratie erscheint immer dringender, um die Demokratie zu retten. Macron hat versucht den Populismus mit autoritätem Dirigismus einzudämmen. Er ist aber gescheitert. Die einfachen Menschen wollen sich nicht mehr bevormunden lassen. Und da nicht jeder Politikwissenschaften und BWL studiert hat, erscheinen uns einige Äusserungen, Aktionen und Forderungen als haarsträubend. Aber das Volk muss lernen, sich selbst zu regieren in einer modernen digitalen Welt. Und dieser Lernprozess ist schmerzhaft, widersprüchlich, manchmal abstossend, aber notwendig.

    • @82236 (Profil gelöscht):

      Leider sind es meist relativ kleine Gruppen, die von sich behaupten, "Das Volk" zu sein, und sich selbst regieren zu müssen.

      • 8G
        82236 (Profil gelöscht)
        @Gregor Tobias:

        Ihr Pessimismus rechtfertigt eine elitäre und autoritäre Regierungsform ganz im Sinne von Nietzsche.

        • @82236 (Profil gelöscht):

          Jein. Ich möchte aber auf keinen Fall von Wutbürgern aus dem Bauch heraus regiert werden.



          Pessimist bin ich übrigens nicht.

          • 8G
            82236 (Profil gelöscht)
            @Gregor Tobias:

            Die Wutbürger haben aber, vielleicht zu Ihrem Leidwesen, Wahlrecht und wenn Sie nicht wollen, dass wir in Deutschland italienische Verhältnisse bekommen und Frankreich von der Familie Le Pen regiert wird, brauchen wir mehr Demokratie, mehr Mitbestimmung, mehr Steuergerechtigkeit, mehr Lohngerechtigkeit. Z.B. gibt es einen Mindestlohn, warum sollte es keinen Höchstlohn geben? Der Vostandsvorsitzende von Renault Nissan Carlos Ghons, der gerade in Japan einsitzt, hat nur die Hälfte seiner Einkünfte bei der Steuer angegeben. Normalerweise rutscht das so durch, aber aus politischen Gründen wurde Ghons von den japanischen Behörden festgesetzt, weil Nissan nicht mehr der Juniorpartner von Renault sein will. Jetzt versteuern Sie mal nur die Hälfte Ihres Gehalts, meinen Sie damit kommen Sie durch? Genau solche Praktiken sind Futter für den Populismus. Wenn dann die Regietung daher kommt und die Spritsteuer erhöht, gibt's Zoff. Und da die Leute den Steuerbetrügern nicht ans Leder können, lassen sie ihre Wut an noch Schwächere aus. Die Migranten sind das neue Lumpenproletariat und wie von jeher dem Volkszorn ausgesetzt. Aber spielen die Regierenden nicht mit dem Feuer, wenn sie sagen, dass Sie nicht alles Elend dieser Erde aufnehmen können? Denn die Armen werden immer mehr in Europa und der Kuchen immer kleiner und die Menschen hören und sehen das, spüren es. Was man ihnen nicht sagt, ist, dass der Kuchen kleiner wird, weil für die wenigen Reichen ein Riesenkuchen gebacken wird, deren Stücke pro Maul immer grösser werden.

            • @82236 (Profil gelöscht):

              Es tut mir absolut nicht leid, dass Wutbürger ein Stimmrecht haben, nur sollten sie es erstens auch ausüben, und zweitens mit eingeschaltetem Hirn das Kreuz bei der Partei machen, die auch ein Konzept zur Lösung ihrer Probleme hat.

              • @Gregor Tobias:

                Gibt es denn so eine Partei? Wieviel Aufmerksamkeit bekommt so eine Partei? Kann so eine Partei im Wahlsystem gewinnen?



                Andererseits - warum die Beschränkung des Blickwinkels auf die Parlamente und Wahlen? Es gibt eine Politik der Straße und die ist wichtig!

  • Bedauerlich, dass der deutsche Normalbürger nicht mal halb so viel Mumm / Engagement aufbringen, wenn es darum geht das System in die Schranken zu weisen.

    • @Togijak:

      Wie definieren Sie denn "das System"? Wie grenzen Sie "das System" vom Rest der Welt ab? Welche Ziele verfolgt "das System"?

    • @Togijak:

      Die Schranken des Systems bildet die Verfassung. Darauf haben wir uns geeinigt.