Kommentar Hongkong und China: Grüße aus der renitenten Stadt
Hongkongs Autonomieformel „Ein Land, zwei Systeme“ lässt viele Interpretationen zu. In der Praxis ist sie eine flexible Mogelpackung.
B evor sich Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam am Dienstag erstmals persönlich vor der Presse für ihren Umgang mit dem Auslieferungsgesetz entschuldigte, entdeckten die Fotografen eine Packung Papiertaschentücher auf Lams Rednerpult. Die wurden sogleich fotografiert. Würde Lam wieder in Tränen ausbrechen? Bei ihrem letzten TV-Auftritt hatte sie ein paar Tränen verdrückt. Die wurden ihr von vielen als Krokodilstränen ausgelegt.
Bis zu zwei Millionen Menschen demonstrierten nur wenige Tage darauf gegen Lam und ihr Auslieferungsgesetz. Das sieht die Übergabe mutmaßlicher Straftäter an Chinas politische Willkürjustiz vor. Viele fürchten zu Recht, dies könne auch Peking-Kritiker betreffen und damit Hongkongs Autonomie aushebeln. Erst kurz vor der Massendemo hatte Lam das Gesetz auf Eis gelegt, nur reichte das den Demonstranten längst nicht mehr.
Lam scheiterte aber nicht nur an ihrer eigenen Politik und Arroganz, sondern auch an den Widersprüchen ihres Jobprofils. Als Hongkongs Regierungschefin soll sie den Menschen in der früheren Kronkolonie das Gefühl geben, sie sei eine von ihnen und ihr Sprachrohr gegenüber der Regierung in Peking.
Doch dort sieht man es genau andersherum und betrachtet Lam als Pekings Vollstreckerin in Hongkong. Die kommunistische Regierung behält sich das entscheidende Wort bei der Auswahl des Regierungsoberhauptes der Stadt vor. Deren Bewohnern wurde nach der Formel „ein Land, zwei Systeme“ für 50 Jahre Selbstverwaltung und Autonomie versprochen.
Nicht direkt gewählt
Aus Sicht vieler Hongkonger agierten Lam und ihre bisher vier männlichen Vorgänger vor allem als Erfüllungsgehilfen der chinesischen Regierung und nicht als InteressenvertreterInnen der auf ihre Autonomie bedachten Stadt. Zieht die Bevölkerung dann mit Massenprotesten die Notbremse, wie 2003 gegen das Sicherheitsgesetz und wie jetzt gegen das Auslieferungsgesetz, wandelt sich Lams Job plötzlich von Pekings Statthalterin zu Pekings Prellbock.
Sie ist gescheitert und sollte zurücktreten. Doch Chinas Regierung versucht sich hinter ihr und der versprochenen Autonomie der Stadt zu verstecken. Dabei untergräbt Peking die Autonomie immer wieder selbst.
Lam hat nur das gemacht, was Chinas Regierung ihr angetragen hat, wie die meisten Honkonger glauben. Oder, so Lams Darstellung, was sie selbst dachte, was richtig sei. Und was sie wohl dachte, aber nicht sagt, was Peking von ihr erwartet hatte und sie dann in vorauseilendem Gehorsam umzusetzen versuchte. Die Ursache dafür ist, dass Hongkongs Regierungschefs nicht direkt von der Bevölkerung gewählt werden, sondern von einem Peking-loyalen Gremium. Wäre Hongkongs Regierungschefin dagegen der Bevölkerung gegenüber rechenschaftspflichtig und würde von dieser direkt gewählt, hätte Lam den ersten Massenprotest von bis zu einer Million Menschen zunächst nicht einfach ignorieren können.
Inspiration für das Festland?
Lam schien diesen Fehler erst zu merken, als konservative Geschäftsleute nervös wurden. Die sind nicht unbedingt Freunde der Demokratie, weshalb die ersten ihr Kapital ausgerechnet ins autoritär regierte Singapur verlagern. Aber auch sie wollen eben nicht der Gefahr ausgesetzt sein, womöglich eines Tages vor einem Richter auf dem chinesischen Festland zu stehen.
Und sie spüren, dass Lam Hongkongs Wirtschaft gefährdet. Über ihr schwebt die Drohung eines Antrags aus beiden Fraktionen im US-Kongress, Hongkongs Zollpräferenzen aufzuheben. Bisher war die Stadt von bestimmten US-Zöllen wie Donald Trumps Strafzöllen gegen China ausgenommen, weil sie ein eigenes Rechts- und Wirtschaftssystem hat. Würde dies durch das Auslieferungsgesetz aufgeweicht, droht Hongkong seine Privilegien zu verlieren.
Das wäre für die Stadt und die Zentralregierung ein großes Problem. Letztere hat derzeit kein Interesse daran, dass mit Hongkong im Konflikt mit Trump eine neue Front entsteht. Zugleich will Chinas KP die Stadt aber unter ihre Kontrolle bekommen und verhindern, dass Hongkongs Demokratiebewegung zur Inspiration für das Festland wird.
„Ein Land“
Hongkongs Autonomieformel „ein Land, zwei Systeme“ meinte vor allem die Wirtschaft und bürgerliche Freiheiten. Demokratie gab es dort auch damals nicht. Als sich Großbritannien und China 1984 auf die Rückgabe der Stadt einigten, galten Hongkonger als unpolitisch. Das hat sich geändert – wegen Chinas Politik. Jeder Versuch Pekings, die Autonomie auszuhöhlen und Freiheitsrechte zu beschneiden, hat Hongkongs Bevölkerung politisiert. 2014 musste die Regenschirmbewegung beim Kampf um die Direktwahl des Regierungschefs noch eine herbe Niederlage einstecken.
Aber jetzt haben sehr viele Hongkonger das Gefühl, unbedingt ihre Autonomie verteidigen zu müssen, weil es die letzte Chance sein könnte. Junge Hongkonger scheinen sogar bereit, notfalls dafür einen hohen Preis zu zahlen. Chinas autoritäre Führung hat damit jetzt ein echtes Problem. Carrie Lam mag sich nach außen hin als alleinverantwortlich und autonom darstellen. Das nimmt ihr in Hongkong niemand ab: Lam ist Regierungschefin von Pekings Gnaden. Jeden Schritt hat sie abgestimmt.
Das Auslieferungsgesetz dürfte jetzt gestorben sein, auch wenn Lam es nicht offiziell beerdigt. Sie ist nur noch gesichtswahrend im Amt. In Peking dürfte man sich jetzt Gedanken machen, wie man die renitente Stadt künftig stärker kontrollieren kann. Peking dürfte weiter „ein Land“ zuungunsten von „zwei Systeme“ zu stärken versuchen.
Autonomie ist nicht für 50 Jahre statisch. Beide Seiten hatten gehofft, die andere würde sich der eigenen annähern. Doch viele Hongkonger wurden von China eher abgeschreckt, erst 1989 mit dem Tiananmen-Massaker und jetzt seit der neuen autoritären Phase unter Xi Jinping. Der Machtkonflikt wird sich deshalb zuspitzen. Zum einen, weil Peking jetzt erst recht nicht nachgeben will. Zum anderen, weil Hongkongs Bevölkerung gespürt hat, wie mächtig sie ist, wenn sie zusammensteht.
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