Kommentar Freitod-Medikamente: Autonomie am Lebensende
In Extremfällen ist der Bezug einer tödlichen Arznei jetzt legal. Das ist ein Dammbruch – für die Geltung der Grundrechte.
U nheilbar kranke Patienten können künftig auf Hilfe für einen schmerz- und risikolosen Freitod hoffen. Wenn es keine zumutbare Alternative gibt, sollen sie eine tödliche Dosis des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital erhalten können. Das hat am Donnerstag das Bundesverwaltungsgericht entschieden. Die Leipziger Richter stärkten damit die Selbstbestimmung der Patienten am Lebensende und das Recht auf einen würdigen Tod. Die staatliche Pflicht zum Schutz des Lebens muss in bestimmten Konstellationen also zurücktreten.
Vermutlich wird nun wieder vor einem moralischen Dammbruch gewarnt: Angehörige könnten alte Menschen zum Freitod drängen, um schneller und mehr zu erben, heißt es. Das aber ist ein Zerrbild, das mit der Realität wenig zu tun hat. Das zeigen die Erfahrungen in der Schweiz, wo die Beihilfe zum Suizid und der Zugang zu Natrium-Pentobarbital schon lange deutlich liberaler geregelt ist als in Deutschland.
Wenn es in Deutschland nun einen Dammbruch gibt, dann für die Geltung der Grundrechte am Lebensende. Es war eben inkonsequent, zwar den Suizid straflos zu lassen, aber einem Patienten in verzweifelter Lage den Zugang zu einem schmerz- und risikolosen Medikament zu verweigern. Der Patient wurde dabei zum hilflosen Objekt fremder Moralvorstellungen gemacht. Das widersprach der Menschenwürde.
Am Lebensende ist der Patient am Schwächsten. Gerade dann muss seine Autonomie besonders geschützt werden. Sie darf nicht nur ein hohles Bekenntnis sein. Neben dem Zugang zu Medikamenten ist deshalb auch der Zugang zu ärztlicher Hilfe von zentraler Bedeutung.
Das Leipziger Urteil könnte und sollte dabei ein Vorbild für das Bundesverfassungsgericht sein, das derzeit die 2015 eingeführte neue Strafvorschrift gegen „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ prüft. Hier wäre schon viel gewonnen, wenn Karlsruhe klarstellt, dass es Ärzten weder straf- noch berufsrechtlich verboten werden darf, unheilbar kranken Patienten in verzweifelter Lage bei der Selbsttötung zu helfen. Das Verbot von deutschen Suizidhilfe-Vereinen kann dann durchaus bestehen bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch