Kommentar Flüchtlingsproteste in Berlin: Endlich streiten wir um Humanität
Das de facto abgeschaffte Asylrecht zu gewähren, kostet Geld. Doch dank radikaler Flüchtlingsproteste diskutieren wir wieder über Menschlichkeit.
D as „Flüchtlingsproblem“ lässt sich nicht am Stammtisch lösen? Stimmt. Also kann man „da“ nichts machen? Anlässlich der Flüchtlingsproteste in Berlin zucken auch viele Liberale oder Linke mit den Schultern. Das ist falsch. Exakt dafür werden Politiker doch bezahlt: um komplizierte Probleme zu lösen. Humane Flüchtlingspolitik ist Umverteilungspolitik. Sie geht also an die Grundlagen unserer Gesellschaft. Das ist kompliziert, aber machbar. Allerdings nur, wenn auf jeder Ebene die je eigenen Handlungsoptionen geprüft werden und nicht alles durcheinander geht.
Beginnen wir mit der kommunalen Ebene: Die Lebensbedingungen in Flüchtlingsheimen sind katastrophal. Es handelt sich um völlig marginalisierte Orte, nicht weil das so sein muss, sondern weil die Mittelschicht sie ständig neu zu solchen erklärt. Die Folge ist: Kein Bürgermeister wird an seinem Konzept für den Umgang mit Flüchtlingen gemessen. Also hat er kein Konzept. Noch ist offen, ob Berlin eine Ausnahme machen wird.
Natürlich sind menschenwürdige Wohnbedingungen keine Lösung fürs Große und Ganze. Doch sie sind einer der losen Fäden, die es wieder in die Textur einer an Menschenwürde orientierten Gesellschaft einzunähen gilt. Und immer geht es dabei auch um Geld.
Auf Landesebene müssen die mit Flüchtlingen befassten Behörden effektiver arbeiten, und gutes Personal kostet. Und das de facto abgeschaffte Asylrecht wieder zu gewähren, kostet noch mehr. Humanität hat ihren Preis. Damit wären wir auf der Bundesebene angelangt.
Humanität ist wieder umstritten
Hier fehlen bislang brauchbare Ansätze, um in den verelendeten Ländern Möglichkeiten zum Bleiben zu schaffen. Natürlich kann Deutschland nicht alle Flüchtlinge dieser Welt aufnehmen. Aber es kann Steueroasen schließen, um Anreize für die Diktatoren zu schaffen, auch etwas Geld in ihre Länder zu investieren – und sie nicht nur auszuplündern oder mit Kriegen zu überziehen, sodass Flucht zur einzigen Lebensperspektive für Millionen wird.
Stattdessen wird die europäische Grenzabwehr Frontex hochgerüstet, was viele, viele Millionen kostet. Und Deutschland nimmt von 6 Millionen syrischen Flüchtlingen beschämende 20.000 auf. Von einer angemessenen finanziellen Unterstützung für den kollabierenden Libanon nicht zu reden. Hier suchen inzwischen über eine Million Syrer Schutz.
Derzeit ist es einfach so: Erst wenn es an der Basis rumort, wird nach Lösungen auf höherer Ebene auch nur gesucht. Der Anspruch auf eine Totallösung dagegen adelt das Nichtstun und die mangelnde Expertise der Verantwortlichen. Dank der radikalen Flüchtlingsproteste lässt sich jetzt ein neues Kapitel aufschlagen. Sie haben Humanität wieder zum umstrittenen Thema gemacht, und davon profitieren wir alle.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“