Kommentar EU-Gipfel: Neustart? Schon vergessen
Europas Bürger haben für mehr Demokratie und Nachhaltigkeit gestimmt. Das scheint die EU-Staatschefs bei ihrem Postengeschacher nicht zu kümmern.
D ie Botschaft der Europawahl war eindeutig: Die Mehrheit der Wähler steht zur Europäischen Union – aber sie will eine andere Politik. Grüner, sozialer und bürgernäher soll die EU werden, ein „Weiter so“ darf es nicht geben.
Doch beim EU-Gipfel am Dienstagabend in Brüssel war das schon wieder vergessen. Die Staats- und Regierungschefs feierten die hohe Wahlbeteiligung bei der Europawahl als „Erfolg für Europa“ – das war’s. Dass die ehemaligen Volksparteien ihre absolute Mehrheit im Europaparlament verloren haben, schien kaum jemanden zu kümmern. Nur Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron und die Liberalen betonten die Krise der (alten) Mitte.
Kanzlerin Angela Merkel hingegen stand fest zur Europäischen Volkspartei, in der CDU und CSU den Ton angeben – und zu „ihrem“ Spitzenkandidaten Manfred Weber. Dabei hat Weber nicht einmal in Deutschland überzeugt. Eine Mehrheit der Bundesbürger hält nichts davon, den blassen Niederbayern zum Nachfolger von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker zu machen, ergab eine Umfrage. Fast 60 Prozent sind gegen ihn, nur 32 Prozent dafür.
Weber hat weniger Stimmen eingefahren als Juncker vor fünf Jahren. Gemeinsam mit der offenbar überforderten CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer bescherte er der Union das schlechteste Ergebnis aller Zeiten bei einer EU-Wahl. Doch Merkel ging darüber hinweg. Sie selbst habe ja auch mal klein angefangen, sagte sie. Auch ihre politische Agenda hat sie nicht geändert. Ganz oben stünden nun „Innovation und Wachstum“, so die Kanzlerin in Brüssel, „Nachhaltigkeit und Klima“ kommen erst danach.
Noch über nichts und niemanden einig
Klimawahl? Nicht für Merkel. Neustart der EU? Schon vergessen. Das zeigt auch die Art und Weise, mit der die Staats- und Regierungschefs nun vorgehen wollen. Sie beauftragten Ratspräsident Donald Tusk, bis zum nächsten EU-Gipfel Ende Juni eine Vorschlagsliste auszuarbeiten. Auf dieser „Short list“ soll aber nicht nur der neue Kommissionschef stehen, sondern auch Namen für den ständigen Ratspräsidenten, die Europäische Zentralbank und den bzw. die Außenvertreter/in. Das Wahlergebnis wird so mit einem großen Personalgeschacher vermischt.
Schlimmer noch: Die EU-Chefs ließen offen, wie man überhaupt auf die Tusk-Liste kommt. Sie konnten sich weder darauf einigen, nur gewählte Spitzenkandidaten zu nominieren, noch legten sie ihre Karten etwa für die Nachfolge von Notenbankchef Mario Draghi auf den Tisch. Der Grund liegt auf der Hand: Die 28 sind sich über nichts und niemanden einig. Vor allem Merkel und Macron liegen über Kreuz. Damit die deutsch-französische Führungskrise nicht gleich nach der Europawahl offen zutage tritt, soll Tusk nun möglichst geräuschlos sondieren.
Doch bei diesem Verfahren bleiben Demokratie und Transparenz auf der Strecke. Das Wahlergebnis landet in einer „Black Box“, die Beratungen finden wie immer im Hinterzimmer statt. Man müsse Handlungsfähigkeit beweisen, begründete Merkel dieses merkwürdige Verfahren.
Abgeschaut wurde es übrigens in Deutschland. EU-Ratspräsident Tusk soll ähnlich wie der Bundespräsident nach der Bundestagswahl 2017 dafür sorgen, dass möglichst schnell eine neue Brüsseler Koalition zusammen kommt. In Berlin hat das ja auch ganz toll geklappt, nicht wahr?
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