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Kommentar Boris JohnsonRaus aus der EU, bevor sie untergeht

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Londons Bürgermeister wirbt für den Brexit. Er hat gute Gründe dafür – mit denen sich EU-Befürworter auseinandersetzen sollten.

Beim Wahlkampf vor rund einem Jahr waren sie noch im selben Boot: Boris Johnson und David Cameron. Foto: dpa

W enn der populärste Politiker Großbritanniens für einen Austritt seines Landes aus der EU wirbt, hat nicht nur David Cameron ein Problem. Natürlich hat sich Londons Oberbürgermeister Boris Johnson mit seinem Statement zunächst als Favorit für die Nachfolge des britischen Premiers empfohlen. Ein Nein der Briten zur EU beim Referendum am 23. Juni dürfte zu Camerons Sturz führen, und dann würde der wichtigste EU-Gegner zwangsläufig der nächste Premierminister.

Aber es geht um mehr: um ein Urteil über Europa, das alle Europäer zum Nachdenken bewegen sollte. Brexit-Befürworter wie Johnson sind keine kleingeistigen Nationalisten, die sich auf ihrer Insel verkriechen wollen. Sie nehmen die ganze Welt in den Blick und stellen fest, dass Europa davon nur ein schrumpfender kleiner Teil ist – mehr Vergangenheit als Zukunft. Sie wollen sich der ganzen Welt stellen, und dafür wollen sie die Kontrolle über die eigene Politik zurückgewinnen.

Das ist keine Empire-Nostalgie. Der imperiale Reflex liegt eher bei denen, die behaupten, nur vereint könnten die Europäer global „bestehen“ – also so mächtig sein wie früher, als das weiße Europa alle anderen beherrschte.

Aus Sicht der britischen EU-Gegner ist die Europäische Union dem Untergang geweiht, gescheitert am eigenen Anspruch der „immer engeren Union“ – dem Endziel eines politisch geeinten Europas. Dieser Anspruch, sagen sie, sei totalitär; er funktioniere nicht, wie Eurokrise und Flüchtlingskrise beweisen; er bewirke Gegenreaktionen wie das Erstarken des Rechtspopulismus, die Europa erst recht gefährdeten. Deswegen müsse die politische Gestaltungsmacht rechtzeitig zurück in die Nationalstaaten verlagert werden, um diese nicht den Nationalisten zu überlassen.

EU-Befürworter müssen diese Sichtweise nicht teilen – aber sie sollten sich mit ihr auseinandersetzen. In den geläufigen Europadebatten wird sie nicht wahrgenommen. Der EU-Enthusiast hält sich für den Nabel der Welt und den Hüter des Fortschritts, und wer davon abfällt, sündigt. Das greift zu kurz. Die Positionierung des Oberbürgermeisters der globalisiertesten Metropole Europas ist zwar eine innerparteiliche Kampfansage. Aber als politisches Statement ist sie relevant für ganz Europa.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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14 Kommentare

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  • Johnson, ein Narzist wie es im Buche steht, der den Brexit für seine kleinliche politische Karriere benutzt. Globale Probleme können nur durch große soziale Staatenverbände gelöst werden. Der Kleinstaat England, dessen wirtschaftliche Basis sich auf die Zocker-Banken Londons beschränkt, wird zu einer Staatenklasse wie Island gehören.

  • "Dieser Anspruch, sagen sie, sei totalitär; er funktioniere nicht, wie Eurokrise und Flüchtlingskrise beweisen; er bewirke Gegenreaktionen wie das Erstarken des Rechtspopulismus, die Europa erst recht gefährdeten."

     

    Damit setzt man sich schon auseinander. Der Autor verwechselt bloß supranationale Institutionen mit intergouvernementalen Entscheidungen. Gerade der Nationalegoismus und der Machterhalt der Nationalregierungen, insb. der brititschen, haben verhindert, dass "die EU" etwas lösen könnte. Nicht Juncker verhandelte mit Tsipras und Varoufakis, sondern Merkel und Schäuble, genau wie die EU bei Flüchtlingsgipfeln nur Vorschläge macht und als Moderator dient, da schon 2012 insb. Berlin keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wollte. Mit Minsk wurde das auch noch einmal bildlich bestätigt. Nicht "die EU" traf sich mit Putin, sondern Berlin und Paris. Was soll man da objektiv der EU vorwerfen? Dass sie in Bereichen, in denen sie nicht vertraglich legitimiert ist bzw. Kompetenzen hat, nicht eingreift? All diese Konflikte, die national verursacht werden, werden nicht verschwinden, wenn der Nationalstaat wieder mächtiger wird. Viel mehr wird es noch schwieriger, globale oder zumindest kontinentale Entscheidungen zu treffen, da die Vernetzung wieder reduziert wird.

  • Geht doch raus, man sieht sich immer zweimal!

    Das vereingte Königreich ist zur EG gestoßen, als es die Hilfe Kontinentaleuropas gut gebrauchen konnte. Im Zeichen der digitalen Kommunikation laufen die Geschäfte der Londoner Banker aucvh bei geschlossenen Grenzen. Der Rest Europas hat da andere Interessen. Industrie und Handel sind auf das Funktionieren der materialen Kommunikation angewiesen. Idealistische Argumente für ein großes Europa zählen da nicht.

    Aber man sieht sich immer zweimal. Es ist naheliegend, dass sich Kontinentaleuropa ohne britische neoliberale Doktrinen besser entwickelt und schneller zusammenwächst als mit diesen. Es ist noch näher liegend, dass es wieder mal eine Krise im Finanzsektor gibt. Dann ist es gut, wenn Kontinentaleuropa nicht mehr für die Londoner City mit bezahlen muss. Wir können uns heute schon überlegen, was an Gegenleistungen fällig ist, wenn Europa das aber doch tut.

    Natürlich wird das große Europa heute nicht gebraucht, um imperiale Träume auszuleben. Mehr Stärke und Gemeinsamkeit hilft in Vielem z.B. gegen Ansprüche und Zumutungen globaler Konzerne.

     

    Andreas Müller

  • Klar - doch doch

     

    Nach gefühlt 100 Tote Jahre

    Den Libero der asozialen

    Gegenmannschaft knollzen!

    Hätt ich auch bi lütten die Schnauze voll!

    Macht doch wieder euern

    Oxbridge kleinklein Laden auf!

    Je eher - je besser

    In de egen Däsch gewischt

    All des langes & genug is aach!

    Eton & Ascot - forever!

    God shave the Queen!

    & …! - nicht ad usum delphini!;()

    • @Lowandorder:

      & nehmt den Hosenknick &

      Den Windsorknoten

      Die Bügelschalte - &

      Den Hals im Strick

      Gleich mit!

      Danke;)

  • Ich höre immer nur: „Wir müssen die Briten in der EU halten!“

    Gegenfrage: Warum?

    Immer wenn ich in den Nachrichten etwas über die EU und England höre, geht es darum das Großbritannien wieder irgendein Sonderwunsch erfüllt wurde, wie jüngst dass EU-Bürger erst nach 4 Jahren Zugang zum britischen Sozialsystem erhalten.

    Die Schweiz zB gehört auch nicht zur EU und es gibt Kooperationsverträge.

    So werden Schweizer zum Beispiel im Gesundheitssystem behandelt wie EU-Patienten.

    Wenn die Briten austreten wollen, aus welchem Grund auch immer, lasst sie.

    Oder hat jemand einen triftigen Grund warum sie bleiben sollten, außer dem das sie ja geographisch und wertemäßig zu Europa gehören und deswegen mitmachen „müssen“?

    • @derSchreiber:

      Meine Kollegen werden in Pfund Sterling bezahlt und die merken das schon. Das Pfund ist von 1,55 im letzte Jahr auf 1,42 jetzt abgeschmiert. Das sind 10% Lohnkürzung. Der Euro-Dollar-Kurs hat sich uneinheitlicher entwickelt, Tendenz auch runter. Die Amerikaner haben ihre Leichen aus dem Keller geholt. Südeuropa ist noch voll davon. Darunter leidet die EU.

  • "EU-Befürworter müssen diese Sichtweise nicht teilen – aber sie sollten sich mit ihr auseinandersetzen.“

     

    Ich fürchte, diese Aufforderung wird nicht erhört – weder von den eingefleischten EU-Befürwortern noch von ihren Widersachern. Beide Gruppen befinden sich seit geraumer Zeit in ihren jeweiligen Schützengräben und verteidigen diese mit allen Mitteln. Differenzierende Analysen und logische Schlussfolgerungen sind daher kaum noch zu vernehmen, statt dessen jede Menge extrem einseitiger Betrachtungen bis hin zu plumper Propaganda.

     

    Dies ist umso bedenklicher, als dass die Historie und die gegenwärtige Lage der EU allen Anlass für ein unvoreingenommenes Hinterfragen des bisherigen Kurses bietet.

  • 6G
    6474 (Profil gelöscht)

    toll, man nimmt also die welt in den blick, schöne utopie.

    defakto bedeutet eine rückkehr zum nationalstaat grenzkontrollen, das einholen von aufenthaltsgenehmigungen und weniger rechte für europäer, die innerhalb europas umziehen wollen.

    dahin will man also zurück, anstatt ein anderes europa zu denken?

    es ist doch eigentlich ganz einfach:jede offene grenze die existiert, ist besser als nationalstaatliche logik. wenn man die restwelt mit einbeziehen möchte-gerne, aber wer sagt denn das dies auf nationalstaatlicher ebene besser funtionieren könnte?

  • Wenn zwei Konservative sich streiten, ist das doch meist nur ihre Art, Einigkeit zu demonstrieren. Cameron war praktisch noch nie ein Europa-Fan. Hätte er sonst ohne Not ein Referendum über den Verbleib in der EU angezettelt und das dann auch gleich mit dem Thema Flüchtlingsströme und Sozialpolitik verknüpft? Er redet Pro und handelt Kontra - nicht erst seit gestern. Nein, die beiden sind sich sehr einig und bewegen sich beide nur auf eine Bauernumwandlung zu.

  • 2G
    27741 (Profil gelöscht)

    Eine Gemeinschaft in der sich jeder für sich das Beste raussucht, ist keine Gemeinschaft. Bis dato war sie eh mehr ein Knecht für Wirtschaft und Industrie. Als auflösen und ganz neu anfangen.

  • stimmt alles. Komischerweise wurde ein Beitrag zu Camerons Erfolg, wo ich genau dies schrieb, aber angehalten. Vermutlich ist es schlecht, wenn Cameron das will, aber gut, wenn ein Labour Bürgermeister das will.

    • @Dr. McSchreck:

      Tolle Idee - nur schade, dass der Johnson gar nicht von Labour ist. Oooh.

      • @thobetz:

        oh, stimmt, ich habe gar nicht gesehen, dass es schon wieder einen neuen dort gibt. Der letzte war ja ziemlich links.