Kommentar Anschlag in Istanbul: Erdoğan lenkt von sich ab
Faktisch hat Erdoğan in der Türkei schon längst die Alleinherrschaft inne. Doch nicht einmal er scheint die Lage kontrollieren zu können.
M itallem Nachdruck, bis zum endgültigen Sieg, werde man den Terror gnadenlos bekämpfen. Diese martialischen Worte äußerte Präsident Erdoğannach dem neuerlichen Anschlag in Istanbul, doch sie wirken längst wie eine Routineübung, die nicht mehr darüber hinwegtäuschen kann, dass die türkische Regierung dem Terror ohnmächtig gegenübersteht – auch weil sie ihre eigenen Sicherheitskräfte durch „Massensäuberungen“ systematisch geschwächt hat.
Selbst vor obskuren Verschwörungstheorien schreckt Erdoğannicht zurück, um von seiner Verantwortung abzulenken: In seiner Neujahrsbotschaft noch vor dem Anschlag sprach er davon, dass der Terror nur das sichtbare Zeichen sei und dass die Angriffe in Wahrheit von dunklen Mächten ausgingen, die den Aufstieg der Türkei verhindern wollten.
Das Orakeln über dunkle Mächte ist nicht neu, doch diese Verbalattacken sollen nur vertuschen, dass der Terror in der Türkei ganz klare Ursachen hat. Die PKK bombt, seitdem Erdoğannach der verlorenen Wahl im Juni 2016 die Friedensverhandlungen mit der kurdischen Guerilla für beendet erklärt hat; und der IS verübt seine Terror-Attentate, weil Erdoğandie Türkei aus machtpolitischen Erwägungen immer tiefer in den Sumpf des syrischen Krieges manövriert hat. Solange sich an dieser Politik des türkischen „Führers“ nichts ändert, werden auch die Terroranschläge nicht enden.
Ein Land in Angst, so könnte ErdoğansKalkül sein, wäre vielleicht eher bereit, einem autoritären Präsidialsystem zuzustimmen, weil sich eine Mehrheit dann nach Stabilität und Sicherheit sehnt. Doch dieses Kalkül könnte auch danebengehen. Schon jetzt besitzt Erdoğanfaktisch die Alleinherrschaft. Dennoch nimmt die Gewalt ständig zu. Viele Wähler könnten daher daran zweifeln, ob der starke Mann überhaupt noch in der Lage ist, den Terror zu stoppen, ob mit Exekutivvollmachten oder ohne.
Viele Türken, vor allem die säkulare westlich orientierte Mittelschicht, verzweifeln längst an der aussichtslosen Lage. Sie wollen nur noch weg. Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage verschärft sich dadurch weiter, und die Abwärtsspirale dreht sich immer schneller. Die Aussichten für 2017 legen nahe, dass niemand, auchErdoğannicht, die Entwicklung noch kontrollieren kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands