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Kolumne Wir retten die WeltNullnummer mit Nulltarif

Bernhard Pötter
Kolumne
von Bernhard Pötter

Die Regierung tut so, als plane sie kostenlose Busse und Bahnen. Und alle flippen aus. Vom Totalschaden der Verkehrspolitik redet niemand.

Ohne Ticket den Bus nehmen und dabei nicht schwarzfahren – schön wär´s Foto: dpa

A m Ersten jeden Monats immer die gleiche hektische Suche. Es ist halb acht morgens, alle sind ohnehin zu spät und schlafen noch halb, aber für den Schulweg suchen die Kinder nach der neuen Monatsmarke. „Wo war noch der Ordner mit den Fahrkarten …?“, Hektik, Panik, Aufregung, dann losrennen, um den letzten Bus noch zu bekommen. Von alldem will uns nun eine mögliche neue Regierung erlösen, damit wir in diesem Land gut und gerne leben. Sie will Busse und Bahnen einfach kostenlos machen. So steht es zumindest in einem Satz in einem Brief, den Deutschland nach Brüssel geschickt hat.

Selten so gelacht.

Als das Schreiben bekannt wurde, war Karneval gerade vorbei. Aber im Kanzleramt, dem Verkehrs- und Umweltministerium, die den Brief geschickt haben, muss es Lachkrämpfe mit Schenkelklopfen gegeben haben. Denn selten ist es einer Bundesregierung gelungen, ihr Volk so hinter die Fichte und vor den Auspuff zu führen. Und wir alle, alle, alle haben ausführlich über den Vorschlag debattiert: den öffentlichen Nahverkehr in Deutschland kostenlos zu machen, um den Autoverkehr zu drosseln und die Luft zu verbessern.

Nur: Die Regierung hat diesen Vorschlag gar nicht gemacht. Sie hat gegenüber der EU-Kommission bloß angekündigt, sie wolle in fünf Städten zusammen mit Ländern und Kommunen „in Betracht ziehen“, den öffentlichen Personennahverkehr kostenlos zu betreiben. Und los ging das Rauschen im Blätterwald, alle Zeitungen und Sender berichteten, Verkehrsexperten und Verbände lobten und kritisierten, jeder meldete sich zu Wort.

Kein Plan, kein Geld, keine Kompetenz. Nur mal so´ne Idee

Kaum einer erwähnte, dass diese Idee von drei Ministern kommt, die nur die Geschäfte führen und bald nicht mehr im Amt sind. Von einer Regierung, die gerade keinen Mucks zu dem Thema in ihren Ko­ali­tionsvertrag geschrieben hat. Die keinen Anlass sieht, die 24 Milliarden Euro für Tickets und neue Busse und Bahnen aufzubringen, die flächendeckender Nulltarif kosten würde. Die keine Anstalten macht, die Stadtplanung so radikal zu verändern, wie es dafür nötig wäre.

Ganz egal. Das Thema wurde diskutiert, als sei es real und nicht nur irgendwas zwischen Zünd- und Nebelkerze. Aus Sicht der Regierung ein genialer Coup: der Öffentlichkeit (nicht: dem öffentlichen Nahverkehr) einen Knochen hinzuwerfen, um den sich alle balgen, während zwei Schritte weiter das Buffet aufgebaut wird. Niemand redet darüber, dass die Verkehrspolitik der letzten Jahre ein Totalschaden ist, dass sie weder für die Digitalisierung noch den Klimaschutz fit ist noch der Autoindustrie eine Zukunftsperspektive bietet. Nein, alle reden davon, dass Schwarzfahren unmöglich würde.

Die Bundesregierung lernt: Ein kleiner Satz kann alles ändern. Es lohnt sich, mal eben so eine Idee in die Welt zu blasen, auch wenn null Konzept hinter dem Nulltarif steht. Schon vergessen wir die wahren Probleme und drehen uns so lange im Kreis, bis uns so schwindelig ist, dass wir das amtliche Schwindeln nicht mehr wahrnehmen. Das wird Schule machen.

Die Regierung könnte in einem Brief an die EU-Kommission zum Beispiel einstreuen, sie wolle mal eben so den Nahostkonflikt lösen. Oder die Einführung eines weltweiten Grundeinkommens für alle untersuchen. Oder die Atomwaffen abschaffen. Das Welthandelssystem gerecht gestalten. Den Klimawandel rückgängig machen. Dem Tesla-Chef Elon Musk bei der Besiedlung des Mars helfen. Oder zur Flüchtlingspolitik in guter alter Tradition erklären: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“

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Bernhard Pötter
Redakteur für Wirtschaft und Umwelt
Jahrgang 1965. Seine Schwerpunkte sind die Themen Klima, Energie und Umweltpolitik. Wenn die Zeit es erlaubt, beschäftigt er sich noch mit Kirche, Kindern und Konsum. Für die taz arbeitet er seit 1993, zwischendurch und frei u.a. auch für DIE ZEIT, WOZ, GEO, New Scientist. Autor einiger Bücher, Zum Beispiel „Tatort Klimawandel“ (oekom Verlag) und „Stromwende“(Westend-Verlag, mit Peter Unfried und Hannes Koch).
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17 Kommentare

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  • 7G
    7964 (Profil gelöscht)

    Freie Fahrt für freie Bürger

     

    Es geht nicht nur darum Fahrverbote zu vermeiden: Der Bund versucht hier möglichst kostengünstig die Lasten an die Kommunen abzudrücken und dabei noch zu glänzen.

     

    Echte Verkehrspolitik scheitert am jahrzehntelangen Rückbau:

    Beispielsweise wurden nicht nur Bahnstrecken stillgelegt und demontiert, sondern auch aus funktionierenden Strecken werden Weichen entfernt. Weichen kosten Geld, sie sind wartungsintensiv, also weg damit. Jetzt kann die Strecke nur noch im Halbstunden-Takt befahren werden, da es keine Ausweichstellen mehr gibt.

     

    Echte Verkehrspolitik scheitert an passenden Verkehrsführungen und -anlagen:

    In Städten fahren Straßen- und S-Bahnen sternförmig von einem Zentrum aus. Es gibt kaum Ringverbindungen. Die wenigen existierenden Ringe sind oft vor über hundert Jahren angelegt worden und genügen den Verkehrsanforderungen nicht mehr. Bestes Gegenbeispiel sind die drei konzentrischen Straßenbahnringe in Wien, Österreich.

    Umsteigebahnhöfe sind nur selten als umsteigefreundliche Richtungsbahnhöfe (Mehringdamm in Berlin oder Kellinghusenstraße in Hamburg) angelegt - meist muss der bezahlende Endverbraucher treppauf und treppab zu seiner Bahn laufen, statt dass die Bahn zu ihm kommt. Vernachlässigt werden Menschen in Kinderwagen oder Rollstühlen - von Fahrrädern will ich gar nicht anfangen.

     

    Echte Verkehrspolitik scheitert an durchdachten Verkehrsmitteln:

    Busse und Bahnen sind nicht dasselbe. Die Fahrt mit der S-Bahn zur nächsten Station dauert etwa drei Minuten. Die Möglichkeit mit dem Omnibus eine Dreiviertelstunde.

    Es gibt moderne Oberleitungs-Fahrzeuge, die sowohl als Straßenbahn mit eigenem Gleisbett alsauch als Omnibus beispielsweise in engen Straßen fahren können. Die Oberleitung ersetzt den problematischen Akku. Das Beispiel dazu ist in Nancy in Frankreich zu finden.

     

    Allein die Ingenieurstunden, die in selbstfahrende Autos gesteckt werden, würden in ÖPNV investiert, viel bewegen.

  • Die Misere begann spätestens 1993 mit der sogenannten "Bahnreform", sprich: Umwandlung der Staatsbahn in eine nur der Gewinnmaximierung verpflichtete AG. Alle Bahnchefs seitdem haben brav ihre Pflicht erfüllt: "Gesund"schrumpfung. Die Staatsbahn als wichtigstes Steuerungsinstrument der Verkehrspolitik war tot, und mit ihr jede Menge Infrastruktur vor allem des Güterverkehrs.

     

    Da rächt es sich natürlich besonders, dass das Amt des Verkehrsministers häufig, die beiden letzten Male extrem, mit für irgendwas zu belohnenden Figuren besetzt wurde, die im Lüstersaal des Intellekts eher bei den Funzeln zu finden sind. Seit Jahren gibt es eine offizielle Prognose des BMVI, wonach bis 2030 der Güterverkehr um 38% und der Personenverkehr um 13% zunehmen werde. Die Antwort darauf sind die Schließung hunderter Verladestationen der Bahn und der ökologisch schon längst nicht mehr zumutbare originelle Versuch, der Verstopfung der Straßen durch Zubetonierung von immer mehr Landschaft durch weitere Fahrspuren hinterherzulaufen, statt endlich ein schlüssiges und realisierbares Konzept auf den Tisch zu legen.

     

    Solange die zuständigen Minister sich weiterhin vor allem als Mehrer des Nutzens der Konzerne und Verbände verstehen, steuern wir sehenden Auges auf einen unvermeidlichen, aber vielleicht heilsamen Kollaps zu.

    • @Bitbändiger:

      Richtig. Gut erklärt!

  • Bernhard Pötter verschweigt, dass weder er noch die taz den Totalschaden der Verkehrspolitik richtig beschrieben haben. Er besteht in der Erzeugung von unnötigem und sinnlosem Verkehr, vermutlich kapitalgetrieben. Statt um Verkehrsvermeidung, Stadt-, Regional- und Verkehrsplanung und umfassende Konzepte ging es zuletzt in der taz fast nur noch um den Autoantrieb und um Sharing Economy (bzw. was daraus logischerweise geworden ist).

  • Typisch mutloser Zentralismus!

     

    Okay, natürlich kann man daraus eine der üblichen Säue machen, die für zwei Wochen durch die Talkshows getrieben werden und das war es.

    Nur, warum ist es denn unvorstellbar, dass eine Gemeinde sagen würde: Prima Idee, machen wir. Schickt uns mal das Geld.

     

    Es wäre dringend nötig, aber leider sind in den Kommunalparlamenten meistens die gleichen Parteien vertreten wie in den Bundes- und Landesparlamenten. Ich entsinne mich gerade noch, wie in der Heimatstadt meiner uralten Tante, die auch der Wahlkreis der ehemaligen Ministerpräsidenten Kraft und deren grüner Ministerin Steffens war, zuerst eine Straßenbahnlinie stillgelegt wurde; man dafür einen Bus einrichtete, mit dem man die Innenstadt nicht mehr erreichen konnte, sondern an einem Friedhof durch matschiges Gelände in eine Straßenbahn dann umsteigen musste und man schließlich auch noch den Straßenbahntakt so ausdünnte, dass es überhaupt keinen Anschluß mehr gab. Niemand, der ein Auto oder Taxi benutzen kann, wird da noch Nahverkehr nutzen. Soviel zu rotgrüner Umweltpolitik in NRW. Da wird niemand sich für einen besseren Nahverkehr einsetzen.

     

    Aber es gibt ja evtl. irgendwo Gemeinden, die ohne die etablierten Parteien auskommen. Wenn man sowas hört, bekommt man fast wieder Lust, selber mal wieder politisch was zu machen.

     

    Naja, hab' auch noch was anderes zu tun. Besser doch nicht.

    • @Age Krüger:

      Mutloser Zentralismus?

       

      Will ein Provinzler damit zaghafte Debatten am aufkeimen hindern und gleichzeitig noch sein Süppchen mit Der SPD und den Grünen an köcheln halten?

  • Dann muss der Journalismus aber auch nicht über jedes Stöckchen springen und jede Sau durchs Dorf jagen. In der Regierungspressekonferenz wurde sehr genau erklärt, wie der Vorschlag zu verstehen ist. Das hätte man ja auch mal ausführlich in einem Artikel erläutern (und kritisieren) können.

  • Da haben wir es wieder: Auf eins kann sich die Bundesregierung immer und taubblind verlassen, und das ist der „mündige Bürger“. Wenn der nur gut genug geschmiert wird, vergisst er ebenso bereitwillig wie gründlich, dass es sein eigenes Geld ist, mit dem man ihn tröstet. Über den Umstand hinweg, meine ich, dass die Verursacher einer Misere um ihre verdiente Strafe herum kommen, wenn alle zusammen sämtliche (Hühner-)Auge zudrücken und Fünfe gerade sein lassen.

     

    Es lebe der moderne Ablasshandel!

  • Wenn man u.a. durch ein bestimmbare Rechtssubjekte einseitig bevorteilendes Steuersystem Geld verschwendet, ist für diese Phantasterei leider sowieso kaum Raum.

  • Ob nun Ente oder nicht. Spannend ist die Debatte allemal. Sie wurde neu angestoßen und das Thema hat Auftrieb bekommen. Das ist doch schon mal was!

     

    Man kann sich zwar durchaus vorstellen, das die GroKo-Parteien nicht den Mut haben, das Thema anzugehen, aber wer weiß, Merkel war schon für andere Überraschungen gut.

  • Na ja - Nebelkerzen aus der Regierungszentrale sind nun wirklich nichts Neues oder Überraschendes und ÖPNV zum Nulltarif gab es hier und da doch auch schon in diesem Land.

  • Hier, Kreis Esslingen müsste man die Anzahl der Busse mal locker verfünffachen + zusätzlich Schnellbusse einsetzen oder die Frequenz auf der Schiene ebenfalls stark - sehr stark - erhöhen. Dazu bräuchte man auch reservierte Busspuren.

     

    Dann schafft man es vielleicht ein zeitliche Alternative zum Auto trotz zähem Verkehr zu sein. heute sitze ich 35-50min im Auto... mit Bus und Bahn komme ich auf gut 120min. Und es wäre teurer! Abgesehen davon das man das Auto eh braucht wenn der Supermarkt 4km entfernt und 200m tiefer liegt.

  • Wenns den Politikern ernst wäre, dann könnte man doch gleich mal die Alternativkonzepte von S21 oder der 2. Stammstrecke in München hinterfragen.

    Zu diesen Konzepten gibt es nämlich Alternativen, die für den ÖPNV viel mehr bringen, als die Originale.

    Dann kommen von alleine mehr Menschen in den ÖPNV und aus dem Auto.

  • Politik verkommt immer mehr zum Kasperletheater. Aber die Presse spielt da mit und nur ab und zu gibt es mal Stimmen wie dieser Artikel, die rufen, dass der Kaiser keine Kleider anhat. Das Problem gibt es aber nicht nur bei dieser ÖPNV-Ente.

    Wir demontieren gerade unseren Rechtstaat und alle scheint es nur zu interessieren, dass dies für die gute Sache sei. Sei es Totalüberwachung, Einschränkung der Meinungsfreiheit, Abschaffung der Unschuldsvermutung bei #metoo oder die Abschaffung der Gleichberechtigung von Frauen und Männer soweit davon Männer profitieren könnten.

  • Klar wäre dies machbar wir haben ja auch 50 Milliarden übrig für andere Dinge. Nur für denn Otto Normalbürger hat Mann nix übrig.

    • @enStuttgarter:

      Das Geld wäre ja durchaus da. Es müsste sich halt nur geholt werden. Abgesehen davon wäre ein ticketfreier ÖPNV ja durchaus etwas für den Normalbürger. Gesundheitlich, finanziell...

  • ... aber wenn's vielleicht bis 2060 zu machen wäre?