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Kolumne SchlaglochWeiße Dramaturgien

Der Fall Relotius ist der Vorhof des Verbrechens. Wenn sich der europäische Blick auf andere Kulturen richtet, werden gern Legenden erzählt.

Über Mali wird fast immer nur aus der Perspektive der Bundeswehr berichtet Foto: dpa

W ie rasch es still geworden ist um die Fälschungsaffäre beim Spiegel. Mir scheint, wichtige Fragen sind noch nicht einmal aufgeworfen. Welche Bedürfnisse erfüllten die gefälschten Storys von Claas Relotius? Warum werden extrem personalisierte Erzählungen vom Weltgeschehen mit Preisen überhäuft? Wo grenzt die Fälschung an die gewohnheitsmäßigen Legenden, wenn sich der weiße Blick auf andere Kulturen richtet?

Was die Bedürfnisse betrifft, gibt der Text „Der Junge, mit dem der Syrienkrieg begann“ einigen Aufschluss. Schon vor Relotius haben etliche Medien das Schicksal der Schulkinder aufgegriffen, die 2011 in der Stadt Daraa Parolen sprühten (und dann gefoltert wurden). Sie zoomen dabei stets auf einen einzelnen Jungen, damit sein Drama süffig erzählt werden kann, der Junge heißt mal so, mal so, und immer ist er schuld. Bei Bild heißt er 2013 Bashir, und auf Syrien fallen Granaten, „weil Bashir getan hat, was er getan hat“. Im Spiegel heißt er Mouawiya und kämpft seit sieben Jahren „um Sühne“. Weil ein „dummer Jungenstreich“ eine halbe Million Tote bewirkt hat? In welches Irrenhaus sind wir hier geraten?

Was in Daraa 2011 geschah, ist gut dokumentiert. Die Folter an Schulkindern überstieg alles, was dem Assad-Regime bis dahin zugetraut wurde; der Kampf ihrer Eltern entzündete massenhafte Proteste. Dem zivilen Aufstand stand niemand zur Seite, auch nicht aus dem Westen, das markiert die syrische Tragödie. Sie verweist auch auf uns, aber das tut sie nicht mehr, wenn sie als sinnloses Geschehen einem Kind angehängt wird, mit echten oder erfundenen Schuldgefühlen.

Passend zum Umstand, dass sich Assad an der Macht gehalten hat, befriedigt eine mit Schicksalhaftem aufgepumpte Kinder-Erzählung die bürgerliche und ziemlich weiße Lust, an der bösen Welt zu leiden, ohne Folgen, ohne Verantwortung. Schlimm alles da draußen!

Antiaufklärerische Dramaturgien

Das sind antiaufklärerische Dramaturgien, und gerade sie sind schwer in Mode. Auf den Einzelnen fokussieren, Komplexität abschneiden, Gefühle mobilisieren, wenig Denken verlangen. Das Urmodell dafür: die deutsche Austeritätspolitik mit einem Merkel-Porträt erklären. Distanz ist als Haltung, als Betrachterposition, zunehmend delegitimiert worden, zugunsten einer rhetorischen Unmittelbarkeit – dem vermeintlichen Blick von innen, wie Relotius ihn hochtalentiert herbeifabulieren konnte. Gibt es womöglich eine Verbindung zu den neoliberalen Individua­lismus-Exzessen, dem alltäglichen Ich-Ich-Ich-Gejapse, wenn personalisierte Erzählstrukturen nun dem hochkomplexen Rest der Welt übergeworfen werden?

Und wo beginnt da die Fälschung?

An vielen journalistischen Texten wird frisiert, geschnippelt, ge-föhnt, bis sie einen tauglichen Trend haben

Aus Erlebtem, Gesagtem und Gedachtem einen Text zu komponieren, das heißt immer, die Dinge in eine neue, reduzierte Ordnung bringen. Denn „Wirklichkeit“, Myriaden von Gleichzeitigkeiten, ist nicht darstellbar. Deshalb ist es so kindisch zu behaupten, der Slogan „Sagen, was ist“ sei der Gegenpol zur Fälschung. Das Verbrechen, also die gezielte Fälschung, hat einen weiten Vorhof der legalen kleinen Gaunereien. In diesem Vorhof wird frisiert, geschnippelt, geföhnt, bis der Text einen tauglichen Trend hat, und je ferner und fremder die Kultur, um dies es geht, desto stiller die Skrupel.

Die junge Generation von Reporter*innen ist in vielem besser gerüstet, als meine es war: mehrsprachig, weltläufig, reiseerfahren, bewundernswert mutig – aber vielleicht gerade deswegen auch anfällig für Hybris. Und wer selbst nicht anfällig ist, wird hineingedrängt, in diesen Mythos eines geradezu übermenschlichen Vermögens, alles verstehen, alles erzählen zu können, aus jedwedem kulturellen Kontext. Die Hybris anzustacheln ist kostengünstig, ist viel billiger als ein Korrespondenten-Büro oder als dauerhaft einheimisches Personal im Krisengebiet XY zu honorieren, Übersetzer und Fixer, wie sie auf den alljährlichen Totenlisten von Reporter ohne Grenzen stehen, Märtyrer für westliche Medien.

Als ich mein Buch „Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben“ sechs Jahre nach seinem Erscheinen für eine Neuausgabe überarbeitet habe, war ich erstaunt, wie wenig sich in der Zwischenzeit verändert hatte. Gewiss, Fake News und ständig neue Formate, aber unverändert blüht im westlichen Journalismus die kulturelle Anmaßung. Bescheidenheit wird selten honoriert, höchstens als inszenierte Bescheidenheit wie bei Relotius, aber nicht indem Brüche, Lücken, Unzulänglichkeiten benannt würden. Stattdessen eine Einfühlungsästhetik, die manchmal koloniale Züge hat.

Was gibt der weiße Journalismus ab? Nichts

Können wir wirklich die Welt aus der Sicht einer jemenitischen Hausfrau, einer Hirtin in Bhutan oder eines alten senegalesischen Fischers erzählen? Als säßen wir in deren Hirn und Herzen, als wüssten wir genug, um uns hineinversetzen zu können in jemand so anderen. Die Jemenitin, die Hirtin, der alte Fischer, sie kämen nicht auf diese Idee. Sie respektieren Grenzen. Wir respektieren sie nicht, und das ist typisch für weißes Schreiben.

Und dann das Wechselspiel zwischen den medial eingeübten Gewohnheiten, die Bewohner eines Landes auf eine bestimmte Weise zu sehen, und den politischen und militärischen Strategien, die für dieses Land ersonnen werden. Über Mali wird fast ausschließlich aus der Perspektive der Bundeswehr berichtet. Wann geht dieses Framing in Fälschung über? Niemand entschuldigt sich dafür bei den Maliern. So wie der Spiegel sich nie bei hiesigen Muslimen für seine islamophoben Titelbilder entschuldigt hat. Die Islamisierung Deutschlands war titelfähig, Jahre bevor die AfD gegründet wurde.

In diesen Tagen ist oft von einer postkolonialen Globalisierung die Rede. Museen und Ethnologen beginnen einzusehen, dass sie Kontrolle abgeben müssen und nicht mehr die Zentralper­spektive beanspruchen können. Was gibt der weiße Journalismus ab? Nichts. Auf die Zukunft ist er schlecht vorbereitet.

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21 Kommentare

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  • Ein schöner Artikel, in dem viel Wahres steckt. Ich würde mir jedoch wünschen, dass, anstatt rhetorische Fragen aufzuwerfen, starke Thesen ordentlch formuliert und begründet werden.



    "Gibt es womöglich eine Verbindung zu den neoliberalen Individua­lismus-Exzessen, dem alltäglichen Ich-Ich-Ich-Gejapse, wenn personalisierte Erzählstrukturen nun dem hochkomplexen Rest der Welt übergeworfen werden?" Ich glaube, diese Verbindung gibt es. Die Autorin glaubt es auch. Warum sagt sie es nicht? Warum sagt sie es nicht mit Verweis auf den wissenschaftlichen Diskurs (Wissenssoziologie usw.) und gibt ihrer Kritik damit einen fundierteren Charakter? Die Wirkungen des Neoliberalismus sind zu schwerwiegend, um sie im Ungefähren oder Angedeuteten zu belassen.

    • @My Sharona:

      Liberalismus pur war schon immer besser als Neoliberalismus.



      Genau so, wie manch eine(r) den Sozialismus erträglicher fand, als den Nationalismus.



      Und Royal intelligenter als Neo Royale.

  • "In welches Irrenhaus wir hier geraten sind? In eins, in dem sich alles wahnsinnig schnell entwickelt hat – außer der sozialen Kompetenz der Menschen."



    Sehr schön auf den Punkt gebracht! Und zwar unabhängig vom kommentierten Artikel

    • @HopeDrone:

      ups, das sollte @Mowgli heute 15:29 gehen

  • 8G
    81331 (Profil gelöscht)

    ..."Können wir wirklich die Welt aus der Sicht einer jemenitischen Hausfrau, einer Hirtin in Bhutan oder eines alten senegalesischen Fischers erzählen?"



    Nein, können wir nicht. Das hat 2001, 9/11 New York, schon nicht funktioniert und damals richtete sich der "europäische Blick" auf eine Nation (Kultur), unserer gar nicht so unähnlich.



    Ich habe manchmal den Eindruck, mittlerweile gehört es bei Journalisten, zumindest hier in Europa, zum guten Ton, Halbwahrheiten zu verbreiten.

  • 6G
    61321 (Profil gelöscht)

    Wenn selbst nachdenkliche Frauen wie Charlotte Wiedemann nicht mehr vor einer plumpen rassistischen Deutung der Wirklichkeit zurückschrecken, das ist schon mehr als betrüblich. Nöö, ist nicht wirklich hilfreich. Wenn Sie der Wahrheit näher kommen wollen, müssen Sie schon ein bisschen mehr in Ihre Studien investieren. Vom Menschen verstehen Sie vielleicht doch nicht so viel, wie man Ihnen allgemein so zutraut und wie Sie es sich vermutlich selbst zu Gute halten

  • 9G
    90118 (Profil gelöscht)

    die hautfarbendebatte im forum zeigt, das auch die leser aus ihrer imperialen und postkolonialistischen zentralperspektive abgeholt werden wollen.



    die manipulierten geschichten funktionieren deshalb so gut, weil sie genau diese vorurteile bedienen.

  • Die Autorin scheint sehr genau zu wissen, wie “weißer“ und wie “schwarzer“ Journalismus aussieht. War mir noch gar nicht klar, wie Art und Qualität von der Hautfarbe (Sprechort!) abhängen. Wie wäre Journalismus mit gemischtem Elternhaus zu klassizieren? Aber abgesehen von diesem Critical-Whiteness-Quatsch finde ich die Beschreibung des Drangs zur personalisierten, emotionalisierten Großen Story sehr gut!

    • @dites-mois:

      „Schwarz“ und „Weiß“ hat im Konzept der Critical Whiteness nur sehr bedingt mit den tatsächlichen Hautfarben zu tun...

    • @dites-mois:

      Denken Sie doch einfach noch ein wenig über den Text nach...

  • "Dem zivilen Aufstand stand niemand zur Seite, auch nicht aus dem Westen, das markiert die syrische Tragödie."

    "Sie respektieren Grenzen. Wir respektieren sie nicht, und das ist typisch für weißes Schreiben."

    Was denn nun - Einmischung aufgrund überlegener westlicher Werte wie in Mali, Afghanistan, etc. oder doch lieber keine postkoloniale Einmischung wie in Syrien?

  • Nunmehr wird auch dem ungebildeten Leser klar, daß der weiße Journalismus ausgedient hat. Die Zukunft ist schwarz.

  • Zitat: „Sie [Anm.: die Jemenitin, die Hirtin, der alte Fischer] respektieren Grenzen. Wir respektieren sie nicht, und das ist typisch für weißes Schreiben.“

    Ist es nicht. Denn was soll das eigentlich sein, ein „weiße Schreiben“? Ist es nicht auch anmaßend, auch kolonialistisch (und außerdem dumm), einen überführten Lügner zum Kronzeugen in Typologie-Fragen zu machen?

    Nicht jede*r „Weiße“ schreibt wie Claas Relotios. Es wird ja auch nicht jede*r so gehyped. Und längst nicht jede*r unterwirft sich so unkritisch wie Claas Relotios der Maschinerie, mit der Mehrwerte erzeugt werden.

    Es gibt Menschen, die Grenzen auch dann respektieren, wenn man ihnen erlaubt, sie zu überschreiten. Einfach deswegen, weil es die Grenzen fremder Menschen sind und sie verstanden haben, was ein kategorischer Imperativ ist. Solche Menschen sind nicht unbedingt an ihrer Hautfarbe zu erkennen. Und nicht alle schreiben sie.

    „Antiaufklärerische Dramaturgien“ sind offenbar wirklich in Mode. So sehr, dass selbst die Kritik daran antiaufklärerisch daher kommt: überfokussiert, Komplexität abschneidend, Gefühle mobilisierend und vor allem wenig Denken verlangend. Ich finde das unendlich schade.

    In welches Irrenhaus wir hier geraten sind? In eins, in dem sich alles wahnsinnig schnell entwickelt hat – außer der sozialen Kompetenz der Menschen. Hier steckt die „Verbindung zu den neoliberalen Individualismus-Exzessen“: Das „alltäglichen Ich-Ich-Ich-Gejaps" kurbelt zwar den Konsum an wie verrückt, ersetzt aber zugleich jedes echte Einfühlungsvermögen durch ein unechtes, künstlich erzeugtes, herbeigelogenes.

    Texte zu verfassen bedeutet, Dinge in eine neue, reduzierte Ordnung zu bringen. Die Fälschung beginnt da, wo entweder von Verfasserseite nicht erwähnt und/oder aber auf Leserseite komplett ausgeblendet wird, dass diese neue Ordnung eine ausgesprochen individuelle ist. Es gibt unendlich viele Wahrheiten. Mit dieser Erkenntnis werden wir leben lernen müssen, gut vorbereitet oder auch nicht.

  • Mir stellt sich nach der Lektüre des Artikels eine primäre Frage:



    Ist das einfach nur klassisches "Weißen-Bashing" oder machen 'andere' das anders?



    Gibt es "schwarzen", "gelben", "grünen" oder von mir aus "rosa gepunkteten" Journalismus? Und ist der 'Besser'?

    Falls nicht, ist die ganze Aufmachung sinnbefreit.



    Die Punkte kann ich zumindest zum Teil nachvollziehen. Glaube ich zumindest. Aber die Aufmachung hat irgendwas selbstkasteiendes an sich, das für mich den Eindruck einer Selbstbeweihräucherung macht.

    Aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren.

  • Große Zustimmung zum Artikel. Ich würde es aber auch mit der Kritik am "weißen Standpunkt" nicht übertreiben. Da schwingt schnell noch ein Denken von 1900 mit, dass der "weiße Standpunkt" der 100% überlegene ist - nur dass wir heute daraus den Schluss ziehen für alle fürsorgend mitdenken zu müssen. Die Welt ist aber heute eine andere. Schon alleine die Hautfarben beginnen sich so zu mischen, dass ein "weißer Standpunkt" von alleine irgendwie ein Auslaufmodell ist. Aber noch mehr können heute nicht-weiße Länder recht gut für sich selber reden - die brauchen keine Bemutterung. Und noch: wir können auch nicht Bemuttern, weil wir selber dazu viel zu klein und desorientiert sind. Wenn wir uns einfach besser um unseren eigenen Kram kümmerten, wäre das aus meiner Sicht ein ganz guter Schritt. Aus unserer Sicht die Welt zu beschreiben, in die wir nunmal eingebettet sind, gehört dazu und bereichert. Die anderen beschreiben uns ja auch aus ihrer Sicht - auch das ist gut so und bereichert. Ich fände nichts schlimmer als wenn alle Inder dauernd bei mir anrufen, wie sie über Deutschland denken und schreiben sollen. Deren Sicht aus deren Kultur heraus auf uns ist voll ok - es ist ja ohnehin nur eine unter vielen.

  • Im Text steckt viel Wahrheit...

  • Relotius hat nichts mit "weißem Journalismus" zu tun. Er wusste um den Bedarf (auch den politischen) und so schrieb er auch. Dabei bleib er nicht bei "aus Erlebtem, Gesagtem und Gedachtem einen Text zu komponieren", sondern log wo es passend erschien. So hat er ein Bild einer amerikanischen Kleinstadt abgeliefert, wie es sich die Redaktion und wohl auch Zielgruppe des Magazins vorstellt und insgeheim auch wünscht - Trump-Wähler, die irgendwie waffenverrückt, engstirnig und unbelehrbar:

    medium.com/@michel...-town-d92f3e0e01a7

    • @agerwiese:

      "Können wir wirklich die Welt aus der Sicht einer jemenitischen Hausfrau, einer Hirtin in Bhutan oder eines alten senegalesischen Fischers erzählen? Als säßen wir in deren Hirn und Herzen, als wüssten wir genug, um uns hineinversetzen zu können in jemand so anderen. Die Jemenitin, die Hirtin, der alte Fischer, sie kämen nicht auf diese Idee. Sie respektieren Grenzen. Wir respektieren sie nicht, und das ist typisch für weißes Schreiben."

      Ist das wirklich so schwer zu verstehen?

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Die Autorin, die übrigens selber ausgiebig über Ausland schreibt, benutzt den Fall-Relotius als Opener für den "weißen Journalismus" und somit versucht ihn (Relotius) umzudeuten: von einem Geschichtenerzähler (und Lügner), der den Bedarf bedient, zu einem Invasoren in die Psyche und Realität fremder Kulturen. Netter Versuch, einen und seine Methoden abzuwatschen, wo er aufgeflogen ist.

        • @agerwiese:

          Sie hängen zu sehr an dem Begriff weiß. Es geht um die Arroganz, mit der dem Rest der Welt entgegen getreten wird. Und die Autorin nimmt Relotius nur als Beispiel. Gemeint sind 98% unserer Journalisten und unsere gesamte Gesellschaft bis auf wenige Ausnahmen.

  • wow! danke für diesen wirklich wachrüttelnden Text!