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Kolumne Knapp überm BoulevardGesellschaft gibt es nur mit anderen

Isolde Charim
Kolumne
von Isolde Charim

Zerfällt unsere Gesellschaft in eine Vielzahl von Gemeinschaften? Wichtig für alle Individuen ist der Umgang mit den Unterschieden.

Wichtig ist für eine Gesellschaft der Umgang mit Unterschieden und die Solidarität Foto: dpa

I m Zeitalter der gespaltenen, gar zerfallenden Gesellschaft taucht immer öfter ein Ruf auf: Überlassen wir Konzepte wie Heimat oder Zugehörigkeit nicht den Rechten! Ich möchte hiermit Skepsis anmelden. Denn was heißt eigentlich, die Gesellschaft zerfällt?

Seit Ferdinand Tönnies unterscheidet die Soziologie zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft. Gemeinschaften sind Gruppierungen mit einer eigenen Verbundenheit – durch Emotion, durch Tradition –, die als „natürliche“, organische erlebt wird. Eine Gesellschaft hingegen ist eine wesentlich losere Verbindung, in der die Individuen miteinander in Austausch treten, interagieren, kooperieren – aber doch getrennt bleiben. Für den Einzelnen bedeutet das den Unterschied zwischen Teilsein und Teilhaben: In einer Gemeinschaft ist man Teil des Ganzen – in einer Gesellschaft hat man teil.

Was eine Spaltung der Gesellschaft bedeutet, kann man sich sofort vorstellen. Was aber bedeutet der Zerfall der Gesellschaft? Es ist dies der Rückfall in eine Vielzahl von Gemeinschaften. Natürlich gab es solche Gemeinschaften auch schon früher, als man die Gesellschaft noch nicht in Frage stellte. Es gab politische, religiöse, kulturelle Subgruppen. Heute aber erodiert das Verbindende zwischen all diesen Gruppen – was deren jeweiligen Gemein­schafts­charakter umso mehr verstärkt.

Populismus ist die eminenteste – aber nicht die einzige – Kraft dieses Moments, der die Gemeinschaft befördert. So ist sein Nationalismus der Versuch, ein ganzes Volk in eine Gemeinschaft zu verwandeln. Was aber halten die offenen, die toleranten, die linken Kräfte dem entgegen?

Demokratie und Europa beschwören

Da, wo sie versuchen, die Gesellschaft stark zu machen, herrscht das Bekenntnis zu Begriffen vor. Es ist wie beim magischen Denken: Schon deren Beschwörung soll Gefahr bannen. Demokratie etwa. Oder Europa. All das will man, wie es ist – nur ein bisschen anders: Demokratie – nur demokratischer. EU – nur europäischer, sozialer. Kapitalismus – nur etwas weniger davon, etwas regulierter. All das ist richtig, all das ist redlich. Aber seien wir ehrlich zu uns selbst – fulminant ist es nicht.

Nun gibt es da die neue Schiene: Man kehrt den Spieß um, macht seine eigenen Gemeinschaftsappelle. So kommt es, dass auch Progressive von Zugehörigkeit sprechen, nach dem Wir-Gefühl Ausschau halten, nach Heimat suchen. All das neu, integrativ definiert – als Formel eben, wie man diese Konzepte eben nicht den Rechten überlässt.

Das Problem dabei ist: Damit tappt man selbst in die Falle der Gemeinschaft. Und das ist kein Ausweg. Es geht doch vielmehr darum, das, wonach man sucht, aus der Sprache der Gemeinschaft zu lösen – es in die Sprache der Gesellschaft zu übersetzen. Um eine Gesellschaft zu befestigen, braucht es kein neues Wir-Gefühl, sondern einen Umgang mit Unterschieden – mit unterschiedlichen Gemeinschaften, mit unterschiedlichen Vorstellungen vom guten Leben.

Solidarität statt Zugehörigkeitsgefühl

Es braucht nicht mehr Zugehörigkeitsgefühle, sondern Vorstellungen, wie man Solidarität befördert in einer Gesellschaft, in der Individuen einander eben nicht mehr alle ähnlich sind. Es braucht keine neue Heimat, sondern vielmehr eine vermehrte soziale Durchmischung.

Es braucht keine Verstärkung des Gemeinschaftstextes, sondern das Entwickeln von Gesellschaftskategorien. Ebenso verhält es sich mit dem neuen Narrativ, nach dem jeder ruft und das niemand findet. Es braucht keine neue Erzählung, um Gesellschaft zu befördern. Es braucht vielmehr etwas ganz Anderes: geteilte Praxis, geteilte Erfahrungen. Die so unterschiedlichen Gesellschaftsmitglieder müssen wieder Erfahrungen teilen.

Dazu braucht es Orte der Durchmischung, Bereiche der Kooperation – statt Ghettoisierung und soziale Abkoppelung. Es braucht „gefährliche Begegnungen“, wie Heinz Bude das genannt hat. Und das ist etwas anderes, als „mit Rechten reden“! Ohne diese drohen die offenen, toleranten Kräfte selbst zu einer Gemeinschaft zu werden – zur Gemeinschaft der Progressiven. Denn Gesellschaft kann man nicht allein machen. Die gibt’s nur mit anderen.

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4 Kommentare

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  • Da bleibt die Frage unbeantwortet, warum Gesellschaft als Summe der Gemeinschaften als Ziel lebens- und erstrebenswert sein soll?



    Einerseits hat man Gesellschaft laut Text ja sowieso, andererseits ist die Aussicht auf Gesellschaft wenig reizvoll. Was will ich mit Menschen, die mich nichts angehen? Ich denke, die Autorin erkennt den Wert (nicht die Funktion) von Kultur nicht an. Nur zu überleben reicht nicht.

  • Die soziale Segregierung, die sich auch im Bildungssystem zeigt, hat doch schon lange einen Zerfall gefördert. Es wird seit Jahren nichts dagegen getan, dass Bildungserfolg in DE von der sozialen Herkunft abhängt.

    Wenn man sich die Kommentarspalten in ZON, etc. anschaut und die Gehässigkeit gegen jegliches Soziale liest, sieht man doch, dass Solidarität, etc. längst gegen eine Neoliberales "Ich will nicht für andere Zahlen", "Die sind ja selber Schuld" ausgetauscht wurde.

    Gesellschaft, progressiv? Bei allen Aufregern, im Kern nicht. Da lebt der Feudalismus.

  • Die Bezugnahme auf die Unterscheidung Gemeinschaft- Gesellschafdt bei Tönnies ist grundlegend, bedarf aber der ökonomischen - wir sind ja hier irgendwie linksorientiert oder marxistisch - Fundierung. Ich empfehle: www.peter-ruben.de...20Gesellschaft.pdf sowie ders.: www.peter-ruben.de...20Gemeinschaft.pdf. Eine Gemeinschaft ist primär die Familie, ökonomisch eine Produktionsgemeinschaft, aber auch die Nation ist eine Gemeinschaft, vornehmlich eine Kultur- und Solidargemeinschaft, letzteres nicht immer und nicht unbedingt, wie man z.B. am Streit um den Länderfinanzausgleich erkennen kann. Individuen sind der kleinste, unteilbare Teil der Gemeinschaft. Gesellschaft wird konstituiert, wenn Gemeinschaften oder Individuen miteinander in Austausch treten. Die Glieder/Akteure von Gesellschaft sind souveräne Personen. In jedem Staat, jeder Nation, in jedem Volk gibt es also ZUGLEICH Gemeinschaftlichkeit (was sich an einer gemeinsamen Kasse zeigt) wie Gesellschaftlichkeit im Mit- und - bittesehr auch - Gegeneinander der Personen, Gemeinschaften und kleineren Gesellschaften innerhalb des Staates bzw. der Nation. "Vorstellungen, wie man Solidarität befördert in einer Gesellschaft", gehen wohl am Problem vorbei: Solidarität ist eine Gemeischaftsleistung und setzt wohl eine gemeinsame Kasse voraus. Richtig: "In einer Gemeinschaft ist man Teil des Ganzen – in einer Gesellschaft hat man teil." Von "Spaltung der Gesellschaft" zu reden ist logisch unsinnig, den Gesellschaft ist ja gerade durch (Austausch) unterschiedliche(r), voneinander unabhängige(r) Personen, Gemeinschaften und kleinere Gesellschaften konstituiert, also immer "gespalten". Das zu beklagen, hat das Niveau, als würde man den täglichen Sonnenuntergang beklagen.

    Der Welthandel bildet die Weltgesellschaft. Man kann sich natürlich auch eine Weltgemeinschaft aller Menschen vorstellen. Real gibt es die nicht.

  • Die Gefahr sehe ich auch, dass die "Toleranten, Progressiven" drohen zu einer Gemeinschaft zu werden. Wobei ich Gemeinschaft ansich gut finde, nicht nur Gesellschaft - aber das sind Austarierungen. Jedenfalls braucht eine funktionierende Gesellschaft auch Vertrauen, Solidarität und irgendwelche Bande, damit irgendwelche Regeln, die das Zusammenleben definieren sollen, auch akzeptiert und gelebt werden. Die "Toleranten, Progressiven" laufen aber Gefahr eher abwertend gegenüber anderen Denkweisen zu werden - immer mit der Begründung gegen den nächsten Holocaust (oder Vorstufen) anzuarbeiten. Ich glaube das so nicht mehr. Das scheint mir viel zu simpel in einer recht großen, bunten Welt.