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Kolumne Geht's nochRad ab

Gereon Asmuth
Kolumne
von Gereon Asmuth

Das Bundessozialgericht sieht keinen Grund, warum Rollstuhlfahrer schneller fahren sollten als Schrittgeschwindigkeit. Was?

Wofür stand das sozial in Bundessozialgericht noch gleich? Illustration: ©Tom

B ehinderte müssen behindert werden, sonst wären sie ja am Ende nicht mehr behindert. Auf dieses absurde Fazit lässt sich ein Urteil des Bundessozialgerichtes vom Donnerstag bringen. Die Richter kamen zu dem Ergebnis, dass Krankenkassen einem Rollstuhlfahrer kein sogenanntes Einhängefahrrad mit Elektromotor bezahlen müssen. Ihr Argument: Es sei nicht erkennbar, warum Rollstuhlfahrer schneller fahren sollten als Schrittgeschwindigkeit.

Im konkreten Fall ging es um das Einhängefahrrad „Speedy Duo 2“ einer Firma aus Delbrück im Kreis Paderborn. Solche auch Handbike genannten Geräte lassen sich recht einfach vor einen Rollstuhl montieren. Das Rad wird vom Rollifahrer in der Regel mit einer Handkurbel betrieben – was seine Mobilität bereits entscheidend erhöht.

Beim „Speedy Duo 2“ werden sie, ganz wie bei handelsüblichen E-Bikes, von einem Elektromotor unterstützt. Damit können Behinderte – je nach Ausführung – zehn bis 14 Stundenkilometer erreichen.

Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung hatte sich gegen die Aufnahme des Gerätes in das Hilfsmittelverzeichnis gewandt. Darin aufgelistete Produkte müssen in der Regel von den Krankenkassen bezahlt werden.

Den Versicherungen aber war das Speedy zu schnell. Schließlich ermögliche es das Tempo eines Radfahrers. Zudem könne ein Behinderter das Vehikel über den Nahbereich hinaus nutzen. Maßstab sei aber nur die Fortbewegung eines nichtbehinderten Fußgängers. Dem schloss sich nun auch das Bundessozialgericht an.

Mal eine leichte Steigung schaffen

Dabei weiß jeder Fußgänger, dass er locker auch mal eben auf 10 bis 14 Stundenkilometer beschleunigen kann. Nicht nur beim Joggen, sondern ganz alltäglich, wenn man zum Bus spurten muss. Der Unterschied: Ein Fußgänger steigt dann einfach in den Bus, ein Rollifahrer muss in der Regel draußen bleiben, weil der Bus keine Rampe hat. Oder sie kaputt ist. Der Bordstein zu hoch. Der Eingang zu eng. Die Mitpassagiere nicht zusammenrücken. Der Ausstieg an einer anderen Haltestelle unmöglich. Der Fahrer zu ungeduldig. Und und und.

Kurz gesagt: Kein Rollstuhlfahrer wird selbst mit einem E-Bike-Antrieb jemals die durchschnittliche Mobilität eines Fußgängers erreichen können – jedenfalls nicht, solange die deutsche Realität ihn an allen Ecken und Ende behindert.

Dank des E-Motors könnte er aber immerhin mal ein paar hundert Meter weiter fahren als sonst. Er könnte vielleicht sogar mal eine leichte Steigung schaffen, was sonst unmöglich ist. Und ja, er könnte sogar mal einem ihn begleitenden Fußgänger ein paar Meter davon zischen.

All das gönnen die Versicherer und das Bundesgericht den Rollstuhlfahrern nicht. Das ist nur mit völliger Weltfremdheit zu erklären. Oder mit purem Zynismus.

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Gereon Asmuth
Ressortleiter taz-Regie
Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters
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7 Kommentare

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  • Die Schlussfolgerungen des Autors erscheinen mir lachhaft. Die Worte 'Weltfremdheit' und 'Zynismus' sind so unpassend wie Faust und Auge. Es wäre besser, die ganze Urteilsbegründung erst zu lesen uns alle wesentlichen Details daraus im Artikel zu veröffentlichen. Ja, es stimmt, dass Behinderte behindert sind. Auch ich gehöre zu dieser Gruppe. Aber ich hatte noch nie den Anspruch, dass ich in allen Lebensbereichen mit Nichtbehinderten gleich sein müsste. Ich nehme in Kauf, dass meine Geschwindigkeit nicht mit der von Bolt verglichen werden kann. Denn das ist eines meiner geringsten Probleme!

    • Gereon Asmuth , Autor des Artikels, Ressortleiter taz-Regie
      @fvaderno:

      Niemand soll dazu gezwungen werden, so schnell wie Usain Bolt zu sein (was selbst mit dem Handbike auch schwierig würde). Umgekehrt denke ich aber auch, dass man Rollifahren nicht quasi eine Höchstvgeschwindigkeit vorschreiben sollte. Die Reduktion eines Hilfsgeräts für Behinderte auf seine Spitzengewschwindigkeit ist zudem - ja - weltfremd. Weil das Speedy tatsächlich eben nicht nur dazu verhilft, Tempo zu machen, sondern überhaupt voran zu kommen. Und ob ein Rollifahrer davon entscheidend profitiert oder nicht, sollte meiner Meinung in erster Linie einer entscheiden können: der Rollifahrer. Er ist der einzige echte Experte für sein Leben.

      • @Gereon Asmuth:

        Ob das die hier von Ihnen angezogene Entscheidung ist - weiß ich nicht.

        //lexetius.com/2009,3412

        Wenn Sie sich aber die dort in std Rspr.

        Festgeklopften Voraussetzungen anschauen - könnten Sie vllt. die vorstehende Auffassung nochmals bedenken!

         

        Dort heißt es u.a.

        "…Die Benutzung des Rollfiets ist auch nicht zum Behinderungsausgleich erforderlich. Dieser in § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V als 3. Variante genannte Zweck (vgl jetzt auch § 31 Abs 1 Nr 3 SGB IX) eines von der gesetzlichen Krankenkasse zu leistenden Hilfsmittels bedeutet nicht, dass über den Ausgleich der Behinderung als solche hinaus auch sämtliche direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen wären (sog mittelbarer Behinderungsausgleich). Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitation (vgl § 1 SGB V sowie § 6 Abs 1 Nr 1 iVm § 5 Nr 1 und 3 SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. ……

        Das hier allein in Betracht kommende Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" hat die Rechtsprechung des BSG schon seit den 1990er Jahren immer nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden verstanden. So hat der Senat (Urteil vom 8. 6. 1994 – 3/1 RK 13/93 –, SozR 3—2500 § 33 Nr 7 – Rollstuhlboy) zwar die Bewegungsfreiheit als allgemeines Grundbedürfnis bejaht, dabei aber nur auf diejenigen Entfernungen abgestellt, die ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß zurücklegt. Später (Urteil vom 16. 9. 1999 – B 3 KR 8/98 R –, SozR 3—2500 § 33 Nr 31 – Rollstuhl-Bike für Erwachsene) hat der Senat dies auf die Fähigkeit präzisiert,…"

        BSG, Urteil vom 12. 8. 2009 – B 3 KR 11/08 R (lexetius.com/2009,3412)

        • Gereon Asmuth , Autor des Artikels, Ressortleiter taz-Regie
          @Lowandorder:

          Nein, die von Ihnen hier verlinkte Entscheidung stammt aus dem Jahr 2009. Die darin erfolgte Beschränkung von Behinderten "auf den Nahbereich" ändert nichts an meiner Meinung. Ich halte das für skandalös, weil es einer offenen, auf Teilhabe ausgerichteten Gesellschaft widerspricht.

          • @Gereon Asmuth:

            Fein wäre ja mal Az. & ggfls. Fundstelle rüberwachsen zu lassen.

            Dank im Voraus.

             

            Daß Sie Teilhabe weiter verstehen als das BSG - kann ich nachvollziehen.

            Die vom Gericht gezogene Grenze dürfte aber der Grundausrichtung der gesetzlichen Grundlagen entsprechen.

            • @Lowandorder:

              En passant - da der Redakteur ja schweigt -

               

              eine neuer Entscheidung zur hier relevanten Fragestellung

              "BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 18.5.2011,

              B 3 KR 12/10 R - Krankenversicherung - Rollstuhl-Bike als Hilfsmittel - Zielrichtungen des Behinderungsausgleichs - Grundbedürfnis auf Erschließung eines körperlichen Freiraums - Bestimmung des Nahbereichs -

              //juris.bundessozialgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Art=en&sid=96bd8bcce22e665d4b928c082a789279&nr=12073&pos=26&anz=47

              ps - es wird darin deutlich - daß die Rspr. zeitweilig nicht einheitlich war.

    • 8G
      81331 (Profil gelöscht)
      @fvaderno:

      ...Behinderte sollen behindert bleiben, wie würden Sie das bezeichnen, wenn nicht als Weltfremdheit oder Zynismus?

      Und, was ist mit denen, die nicht so 'genügsam' sind, wie Sie?

      So nach dem Motto 'für was braucht's einen neue Beinprothese, mit der aus Holz konnte man/frau doch auch prima 'rumhumpeln'.