Kolumne Apocalypse Now: Wo sind die Gifte von gestern?

Der Regen: radioaktiv. Der Wein: frostschutzmittelgetränkt. Das Spielzeug: weichmacherverseucht. Ein Blick zurück in die Achtziger.

Spezialeinheiten messen auf einem Feld in der Nähe von Tschernobyl im Mai 1986 Radioaktivität.

Spezialeinheiten messen auf einem Feld in der Nähe von Tschernobyl im Mai 1986 Radioaktivität. Foto: dpa

Früher war alles noch schlimmer. Kaum hatte der Club of Rome seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht, wurde ich geboren, also im Jahr 1973. Prompt gab es den ersten autofreien Sonntag, was aber eher der Ölkrise als einem gestiegenen Umweltbewusstsein geschuldet war. Schon als Krabbelkind kaute ich auf Weichmachern herum, und als ich gerade laufen konnte, war mein erster Spielplatz eine zugeschüttete Müllkippe, auf der sich ein paar Hecken und Sträucher mühten, ursprüngliche Natur zu simulieren.

Club of Rome hin oder her, ich wuchs weiter. Und je größer mein persönliches Wachstum, desto intensiver schwanden die begrünten Flächen in meiner Umgebung zugunsten allgemeiner Bebauung und Oberflächenversiegelung. Bereits als Neunjähriger beteiligte ich mich an diesen Eingriffen in die Schöpfung, indem ich mit Hilfe eines Klappspatens einen Bach umleitete, der in Wahrheit ein Abwasserrinnsaal mit schaumig-gelber Krone war.

Ich erinnere mich an Autofahrten mit geschlossenen Fenstern, bei denen Kette geraucht wurde. An extreme Sonnenbrände, weil man immer „an die frische Luft“ sollte, obwohl dort das Ozonloch lauerte. Schutz boten höchstens die Kondensstreifen der zahlreichen Militärjets, die im Tieflug vorbeidonnerten.

Im Wein war seinerzeit Frostschutzmittel, aber für uns Kinder hatte man ganz andere Toxine: Man trank nach Chemie schmeckende „Limonaden“ aus Metalltüten und als Nachtisch wurden schaumig-schrille Cremes gereicht. Ich schwamm im Rhein und bekam rötlich-juckenden Ausschlag. Ich schwamm in Schwimmbädern, die überchlort waren, und in Seen, die aufgrund von Überdüngung längst umgekippt waren. Mit meinen Cousinen spielte ich im Schatten eines AKWs, das in einem Erdbebengebiet errichtet worden war.

In den Achtzigern dann wurde der Regen zuerst sauer und später radioaktiv. Und ich immer mittendrin mit meinem Fahrrad, während die Erwachsenen sicher waren in ihren Autos, die noch mit verbleitem Benzin fuhren. Eine eventuell in diesem Alter aufkeimende Sexualität wurde unter massiver Todesangst erstickt. Aids.

Der Erde droht der Hitzekollaps. Deshalb wollen die Staatschefs der Welt Anfang Dezember in Paris einen globalen Klimaschutz-Vertrag vereinbaren. Die taz berichtete vom 28. November bis zum 14. Dezember 2015 täglich auf vier Seiten in der Zeitung und hier auf taz.de.

Als Abiturient wollte ich schließlich meinen Vater überreden, einen Katalysator für das Familienauto nachzurüsten, was dieser mit dem Argument ablehnte, dass der Motor dann an Leistung verlöre. Aus lauter Verzweiflung fing ich dann selbst das Rauchen an. Was für eine Ausrede. Schade eigentlich, dass irgendwann der Punkt kommt, an man selbst die Verantwortung übernehmen muss. Im gleichen Jahr, in dem ich mit dem Rauchen anfing, buchte ich meine erste Flugreise.

Die Studie „Die Grenzen des Wachstums“ wurde unter anderem von der Volkswagenstiftung finanziert. Haha. Aufgabe der Studie war es zu zeigen, dass das individuelle lokale Handeln aller globale Auswirkungen hat, die jedoch nicht dem Zeithorizont und Handlungsraum der Einzelnen entsprechen. Und ich weiß gerade nicht, ob es ein Trost ist, dass die Missstände aus dem Kindheitszeithorizont weitgehend behoben wurden, weil ich im Handlungsraum meines Erwachsenseins so viel Mist verbockt habe.

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* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien

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