Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg: Schwarz-grüner Ponyhof
Die Grünen geben den Ton an, die Union zieht mit: Baden-Württembergs Koalitionsvertrag legt den Fokus aufs Klima. Wie lange hält die Harmonie?
Die Reden der Koalitionäre an diesem Vormittag wirken dagegen seltsam leblos. Dabei hat das Regierungsprogramm, das Grüne und CDU in den letzten drei Wochen unter bemerkenswerter Verschwiegenheit gezimmert haben, das Zeug zur Blaupause, wenn eine ähnliche Regierungskonstellation im Bund Wirklichkeit werden sollte.
Es ist Kretschmanns dritte und letzte Amtszeit, die zweite mit der CDU. Und jetzt soll das Regierungsprogramm endlich so grün sein wie nur irgend möglich. Es scheint, als ginge es ihm da auch um seinen eigenen Ruf als Gründungsgrüner. Schon die „Fridays for Future“ haben bei ihm, der oft zögert, abwägt und auch bei den Großkonzernen anerkannt sein will, neuen Schwung im Klimaschutz gegeben. In den Wahlkampf zog er dann mit drei Punkten: Klima, Klima, Klima.
Die Voraussetzungen dafür sind so gut wie nie. Mit dem Urteil des Verfassungsgerichts im Rücken, das Klimapolitik zu einer Frage der Generationengerechtigkeit erhoben hat, und mit einer geschrumpften CDU, die sich gerade nochmal in eine Regierung retten konnte, ließ sich einiges durchsetzen: Eine Solarenergiepflicht für Neubauten und sanierte Dächer, bis zu tausend neue Windräder in den Staatswäldern. Ein Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs von fünf bis null Uhr vor allem in ländlichen Gebieten und ein landesweites 1-Euro-Ticket für Kinder, Schüler und Auszubildende.
Hauptsache Regieren
Es gehe darum zu zeigen, was eine Industrieregion beim Klimaschutz zu leisten in der Lage ist, sagt Kretschmann. „Wir wollen ein kopierfähiges Modell für die Industrieregionen der Welt ausrollen.“ Denn wenn die nicht mitmachten, lasse sich diese Jahrhundertaufgabe nicht lösen.
Da nicken jetzt auch potenzielle CDU-Minister, die früher einmal die Beton- und Atom-Politik von Stefan Mappus eifrig unterstützt haben. Aber um überhaupt noch am Regierungstisch zu sitzen, war die CDU bereit, bemerkenswert viele Kröten zu schlucken. Dass das Kultusministerium an die Grünen geht, mag sie noch verkraften. Das ungeliebte Amt wurde in den Koalitionsverhandlungen zur heißen Kartoffel, die keiner anpacken wollte.
Aber die Union trägt auch echte gesellschaftspolitische Veränderungen mit. Das Wahlrecht mit 16 etwa, die Straffreiheit von Kleindelikten wie geringem Cannabisbesitz und Schwarzfahren. Und das im Vorfeld hoch umstrittene Antidiskriminierungsgesetz, das anders als in Berlin nicht nur für die Polizei, sondern für alle Behörden gelten soll. Auch, dass gut integrierte Geflüchtete nicht mehr von Abschiebung bedroht sein sollen, ist jetzt grün-schwarzes Programm.
Die meisten Wünsche der CDU, wie ein einkommensunabhängiges Familiengeld, waren dagegen zu teuer. Denn die Koalition muss wegen der Steuerausfälle in Folge der Coronapandemie sparen. Man rechnet mit einem Haushaltsloch von 3 bis 4 Milliarden Euro jährlich. Und so bekennen sich beide Parteien zur Schuldenbremse – die CDU etwas mehr, die grüne Parteichefin Sandra Detzer etwas weniger. Sie sagt: „Keine Schuldenbremse der Welt wird uns davon abhalten, Baden-Württemberg bis 2030 klimaneutral zu machen.“ Und Winfried Kretschmann, dazwischen, weist darauf hin, dass viele Klimamaßnahmen nicht die Landesregierung, sondern der Bürger bezahlen muss.
Der eilfertige Klassensprecher
Aber auch für den CDU-Chef Thomas Strobl geht es bei dem Koalitionsvertrag um ein Versprechen. Er hatte sich 2016 erneut in die Niederungen der Landespolitik begeben, um seine Partei zu modernisieren. Angesichts einer Wahlkreiskarte, die von Wahl zu Wahl grüner wird, muss er sich damit beeilen. Deshalb stellt er sich hinter das Klimaprogramm.
Was bei den Grünen Klima- und Artenschutz heißt, nennt er etwas anheimelnder „Enkelgerechtigkeit“. Ansonsten hält sich die Union am Begriff Innovation fest. Neben der weiterhin starken Automobilindustrie, die man mit Forschung bei Batterietechnik, Wasserstoff und Refuels unterstützen will, soll Baden-Württemberg vor allem mit einem Fokus auf Medizintechnik den industriellen Strukturwandel schaffen. Der erste Realitäts-Check des ehrgeizigen Programms wird schon nächste Woche kommen. Denn ausgerechnet an dem Tag, an dem der Ministerpräsident vereidigt wird, kommt die neue Steuerschätzung auf den Tisch.
Ob durch den Finanzierungsvorbehalt der permanente Koalitionsstreit nicht schon vorprogrammiert sei, will ein Journalist wissen. Aber das sei doch immer so, dass man über die Finanzierung streite, antwortet Kretschmann gut gelaunt. „Regieren ist halt kein Ponyhof.“ Strobl, der neben Kretschmann ein wenig wie ein eilfertiger Klassensprecher wirkt, wirft im badischen Singsang ein: „Aber du freusch dich scho au drauf.“ Mal sehen, wie lang die Harmonie hält.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr