Kneipen auf St. Pauli wieder geöffnet: Zurück am Tresen, zurück im Leben

Für manche Stammgäste ist ihre Kneipe der Mittelpunkt ihres sozialen Lebens. Ein Besuch auf dem Hamburger Kiez.

Blick auf den Tresen in Rosis Bar. Eine Frau sitzt am Tresen, eine Frau mit Mundschutz steht hinterm Tresen

Mit Desinfektionsmittel und Mundschutz: „Rosis Bar“ hat wieder geöffnet Foto: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Viele hatten am Mittwoch gar nicht mitbekommen, dass die Kneipen nach sechs Wochen Pause zum ersten Mal wieder Gäste hereinließen. Die Stammgäste aber schon. Als Jan Krüger die Nachricht am Nachmittag von einer befreundeten Barkeeperin bekam, habe er sich eine richtige Hose angezogen, eine „Erwachsenenhose“, wie er sagt, und seinem Freund Benno Starke Bescheid gesagt. Seit 19.30 Uhr sitzen die beiden da, wo sie immer sitzen, also am Tresen in „Rosis Bar“, und trinken Rum-Cola und Vodka-Orangina.

25 Gäste sind am Mittwochabend in die kleine, mit dunklem Holz vertäfelte Kneipe auf dem Hamburger Berg gekommen – mehr dürfen auch nicht rein, der Abstand muss gewahrt werden. Der Türsteher weist immer wieder Passant*innen ab. An der Ecke eines Tisches unterhalten sich zwei Männer, an der anderen Ecke ein Mann und eine Frau. Auf einem Sofa und ein paar niedrigen Hockern sitzen fünf Personen zusammen, es ist die größte Gruppe im Raum. Die Luft ist schwer vom Rauch und es laufen 80er-Jahre-Hits, aber die Tanzfläche bleibt heute leer.

„Die Vorbereitungen für die Wiederöffnung waren ein bisschen hektisch“, sagt Rosi McGinnity, die 79-jährige Wirtin. Desinfektionsmittel musste her, eine Liste, auf der die Gäste ihre Namen und Telefonnummern eintragen sollen, und mehrere Schilder, die auf den Mindestabstand von 1,5 Metern hinweisen.

Auf dem Tisch vor McGinnity steht ein Aschenbecher und eine Orangina, in ihrer Hand qualmt eine Zigarette, die in einer rot-goldenen Zigarettenspitze steckt. Seit 60 Jahren arbeitet McGinnity auf dem Kiez. Mit 19 Jahren fing sie als Kellnerin im „Kaiserkeller“ an, später arbeitete sie im „Starclub“, wo die Beatles berühmt wurden.

Schwere Zeit für manche Stammgäste

McGinnity hat die goldenen Jahre auf dem Kiez erlebt, als die Live-Shows noch künstlerische Darbietungen mit aufwendigen Kostümen waren, als Theaterleute und Musiker*innen kamen und massenweise Geld ausgaben. Sie hat auch die 80er überstanden, als plötzlich alle auf Koks, aber pleite waren, als die Gangs sich bewaffneten und die Angst vor Aids den Kiez lahmlegte. „Da hatten wir ein Jahr lang keine Gäste“, sagt McGinnity. „Ich sag mal so: Corona ist ein Schiss dagegen!“

Für manchen Stammgast mag die Zeit des Shutdowns schwerer zu verkraften gewesen sein. „Was wohl mit dem Mann ist, der immer kommt und sein Glas Rotwein trinkt, aber mit niemandem redet?“, fragt sich die Wirtin. Er ist heute Abend nicht gekommen.

Nicht alle Stammgäste sind aber so gut vernetzt wie Jan Krüger und Benno Starke. In die urigen Kiezkneipen kommen viele ältere Menschen, die kein Internet nutzen und für die es folglich keine Option ist, ihr soziales Leben auf Videoanrufe zu verlegen.

Im „Silbersack“ klingelt manchmal das Festnetztelefon, aber Dominik Großefeld, der den Laden seit dem Tod der 88-jährig verstorbenen Erna Thomsen im Jahr 2012 weiterführt, geht nicht immer ran. Normalerweise ist zu viel los. Am Wochenende ist der Laden voll mit Tourist*innen, aber unter der Woche kommen Stammgäste aus ganz Hamburg, darunter auch viele Senior*innen. Einige habe er versucht anzurufen, sagt Großefeld. Aber von vielen habe er gar keine Nummer, andere seien nicht ran gegangen. Dann habe er es per SMS versucht. „Aber bei manchen bin ich mir gar nicht sicher, ob die wissen, wie man eine SMS öffnet“, sagt Großefeld.

Er habe das Gefühl, seiner Verantwortung nicht immer gerecht werden zu können. Der „Silbersack“ sei für die langjährige Kundschaft mehr ein Wohnzimmer als eine Kneipe, ein Ort des sozialen Austauschs, wo sie auch Hilfe bekämen. Während des Corona-Shutdowns sei das nicht möglich gewesen. „Aber auch mit den aktuellen Vorgaben frage ich mich, wie das gehen soll“, sagt Großefeld. Die Leute kämen ja gerade her, um eben nicht allein zu sein, und nicht, um vereinzelt in der Kneipe zu sitzen.

Was, wenn der Mindestabstand nicht eingehalten wird?

Unter Gastronom*innen herrscht Verunsicherung – wie soll man denn genug Umsatz machen, wenn nur so wenige Gäste reinkommen dürfen? Was ist, wenn die Gäste den Mindestabstand nicht eingehalten werden und die Polizei zur Kontrolle reinschneit?

Auch Rosita Samac ist verunsichert. Die Wirtin führt die „Holstenschwemme“ als Familienbetrieb – unter der Woche bedient ihre Tochter, am Wochenende übernehmen das ihre Enkel. Für die Wiedereröffnung am Mittwochmorgen hätten sie sich mit Desinfektionsmitteln eingedeckt und einen Plastikschutz am Tresen angebracht. „Aber ob die Leute die Abstände einhalten, wenn die besoppen sind?“ Samac bezweifelt das.

Während des Shutdowns habe sie versucht, über Facebook Kontakt zu den Gästen zu halten. „Hallo meine Lieben, ich hoffe ihr seid gesund, wird Zeit, dass wir uns wiedersehen“, steht auf der Facebook-Seite der „Holstenschwemme“. Vor allem für die Alleinstehenden sei es hart gewesen, sagt Samac. „Die haben ja ihre Gewohnheiten und ihren Rhythmus. Wir sind ihre Anlaufstelle.“ Zwei Stammgäste hätten ihr ein Foto geschickt, auf dem sie vor der verschlossenen Kneipe stehen und am Tor rütteln. Obwohl die 72-jährige Wirtin selbst zur Risikogruppe gehört, ist sie auch ein bisschen erleichtert, wieder aufmachen zu können.

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