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Illustration: Oliver Sperl

Klinik-Spezialisierungen in DeutschlandDer Zufall operiert

Würden Sie Ihr Kind von einem Chirurgen behandeln lassen, der das nur einmal im Jahr macht? Bei seltenen Fehlbildungen passiert das immer wieder.

Manuela Heim
Von Manuela Heim aus Rostock

D ie Zimmerdecke über der Behandlungsliege ist himmelblau. Aber der kleine Junge schaut nicht zur Decke, sondern auf die Hände der Ärztin. Keine zwei Jahre ist er alt und lag schon oft auf solchen Liegen. „Lass mich mal gucken, mein Schatz“, sagt die Rostocker Kinderchirurgin Stefanie Märzheuser und zieht Henry* vorsichtig die Hose aus. Der Kleine jammert. „Sieht doch schon viel besser aus, dein Poloch“, sagt Märzheuser mit Blick auf die wunde Stelle.

Henry wurde ohne Analöffnung geboren. Betroffen ist eins von 4.000 Neugeborenen, rund 200 Kinder kommen jährlich in Deutschland mit Analatresie auf die Welt – eine sehr seltene Fehlbildung also. Henry wurde schon mehrfach operiert. Das allein ist nicht ungewöhnlich bei komplexen Fehlbildungen. Aber nach der Operation in einer anderen Klinik gab es Komplikationen, die neue Analöffnung sitzt nicht an der richtigen Stelle. „Dieser Fall“, sagt Märzheuser, „ist ein eindrückliches Beispiel, warum Erfahrung bei der Behandlung seltener Erkrankungen so wichtig ist“.

Analatresie ist eine von vielen komplexen Fehlbildungen, die bei Kindern bald nach der Geburt operiert werden müssen. Ob am Darm oder der Speiseröhre, der Blase oder dem Zwerchfell: All diese Korrektureingriffe werden höchstens ein paar hundert Mal im Jahr durchgeführt. Oft wird die Fehlbildung erst nach der Geburt erkannt und direkt in der Klinik operiert, in der das Kind auf die Welt gekommen ist. Nicht die Erfahrung der behandelnden Me­di­zi­ne­r*in­nen entscheidet über die Verteilung der Kinder. Sondern der Zufall.

Weil es so wenige Fälle sind, gibt es viele Krankenhäuser, die Kinder mit Analatresie und anderen seltenen Fehlbildungen nur einmal im Jahr operieren – oder noch seltener. Diese „Gelegenheitseingriffe“, sind ein Problem – das sagen Ver­tre­te­r*in­nen der Eltern, der Krankenkassen und aus der Gesundheitspolitik. „Schwere, angeborene Fehlbildungen werden zu oft von Personen operiert, die dafür nicht optimal qualifiziert sind“, heißt es zum Beispiel vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung.

Meist haben die Eltern kurz nach der Geburt weder Wissen noch Kraft, kritisch nachzufragen

In der Rostocker Kinderklinik trägt Stefanie Märzheuser den Arztkittel offen über der Jeans, die rosa-weiß karierte Bluse ist locker zusammengeknotet. Seit 2022 ist sie hier Direktorin der Kinderchirurgie, vorher war sie Oberärztin an der Berliner Charité. Kurz nachdem sie die Stelle in Rostock angenommen hatte, da sei ein Kind mit Fehlbildung am Gallengang eingeliefert worden. „Alle schauten mich an: ‚Das können Sie doch bestimmt auch‘, erzählt Märzheuser. „Es ist schwer, dann zu sagen, nein, da bin ich keine Expertin.“ Aber genau das sei notwendig.

Märzheuser ist Expertin für die Behandlung seltener Darmfehlbildungen, Hunderte Kinder hat sie operiert. Familien aus Polen, Libyen, Bangladesch kommen zu ihr. „Mein zweiter Vorname ist Darm“, sagt sie leise und grinst dabei.

Der kleine Henry hat sich inzwischen beruhigt und fährt ein rotes Spielzeugauto über den grauen PVC-Boden im Behandlungszimmer. Gleich links neben der Tür hängt ein Waschbecken. Auf dem Schreibtisch vor dem Fenster hocken ein Plüschfrosch, eine Eule und ein vielbespielter schlapper Esel. Auf dem Fensterbrett stehen Fotos von Kindern und Karten von Eltern. „Vielen Dank für ein besseres Leben“, ist auf einer geschrieben. Über Märzheusers Stuhl hängt ein Fußballschal. Den hat sie von einem Jugendlichen – als Dank für ein Leben ohne Stuhlinkontinenz.

Die Chirurgin spricht mit Henrys Mutter, die sich schwere Vorwürfe macht. Warum ist sie nicht früher in eine andere Klinik gegangen? In eine, die mehr Erfahrung hat? „Gehen Sie über die Station“, sagt Märzheuser, „unterhalten Sie sich mit anderen Eltern, Sie sind nicht die Einzige.“ Sie spricht mit ihr in einfachen Worten über komplizierte Dinge: innere und äußere Schließmuskel, Spülungen, die den Darm trainieren sollen. „Wir müssen arbeiten“, sagt Märzheuser. Die Korrektur-Operation, „der neue Popo“, werde erst der Anfang sein.

„Wird er irgendwann seinen Stuhl halten können?“, fragt die Mutter hoffnungsvoll. Märzheuser beugt sich zu ihr: „Ich weiß, was Sie gern hören würden, und ich würde es gern sagen. Aber wenn es dann nicht stimmt, dann ist das nicht gut.“ Sie könne gut operieren, aber nicht zaubern. „Es ist eine Fehlbildung, es fehlt etwas“, sagt sie der Mutter. Ob die Aussichten ohne die vorherigen Eingriffe besser wären, darüber spekuliert Märzheuser nicht. „Oft sind die Eltern ohnehin schon traumatisiert“, sagt sie, als der kleine Henry nach einer halben Stunde aus der Tür ist.

Illustration: Oliver Sperl

Viele dieser Eltern erfahren erst über Selbsthilfevereine, dass es einen Unterschied macht, wo ihr Kind behandelt wird. Für Kinder mit Fehlbildungen an Darm und Anus hat sich vor 35 Jahren der Verein SoMA gegründet. Heute vertritt er über 1.200 Betroffene und deren Eltern. Weil die Versorgungslücken so groß sind, ist der Verein auch politisch aktiv.

Meist hätten die Eltern, in einer emotionalen Notlage kurz nach der Geburt, weder Wissen noch Kraft, kritisch nachzufragen, erzählt Miriam Wilms von SoMA. Sie wollten und müssten erst einmal den Behandelnden vertrauen. „In diesem Moment des Schocks der Diagnose lassen Sie Ihr Kind doch nicht gegen den Rat des Kinderchirurgen verlegen“, sagt Wilms und spricht aus Erfahrung. Sie ist selbst Chirurgin, ihr inzwischen 4 Jahre alter Sohn kam mit einer Fehlbildung am Anus und am Herzen zur Welt. Beides musste zügig nach der Geburt versorgt werden, und die Qualitätsunterschiede seien immens gewesen.

Rund 3.000 Kinder werden im Jahr mit einem Herzfehler geboren, der operiert werden muss. In der Regel werden sie in einem der bundesweit 21 Herzzentren versorgt. Bei den seltenen Fehlbildungen an anderen Organen ist das Verhältnis viel ungünstiger. Beispiel Fehlbildung am Anus: Ein paar hundert Kinder verteilen sich laut SoMA auf 115 Kliniken. Gerade mal 25 dieser Kliniken operieren fünf oder mehr Kinder im Jahr. Rund 50 der 115 operierenden Kliniken behandeln nur ein oder zwei Kinder – in drei Jahren.

„Außer bei ganz schwierigen Fällen wird so gut wie nie verlegt“, sagt Wilms. Obwohl die meisten Kinder inzwischen gut stabilisiert werden könnten und eine sofortige Operation nicht notwendig ist. Es gebe auch kaum Spezialisierungen, wie sie in der Erwachsenenmedizin üblicher sind. „Kinderchirurgen operieren häufig alles, ihre Patienten haben nur eine Gemeinsamkeit: Sie sind unter 18“, sagt Wilms. Dabei könne gerade bei den vermeintlich einfachen Eingriffen so viel schiefgehen. Die erneuten Operationen seien dann umso komplizierter. Wenn die Eltern die Selbsthilfe kontaktierten, sei die erste Operation in der Regel schon gelaufen. „Das System ist hier in der Verantwortung“, sagt Wilms.

In Rostock kündigt Märzheusers Assistentin nach zwei Stunden Sprechstunde einen besonderen Patienten an. Eigentlich behandelt Märzheuser nur Kinder. Aber der Mann, der jetzt draußen vor der Tür sitzt, ist Mitte 50. Er wurde Ende der 1960er Jahre mit Morbus Hirschsprung geboren, eine seltene Fehlbildung am Darm. Über die Selbsthilfe hat er von den Fortschritten in der Behandlung erfahren, deswegen ist er jetzt hier.

Die Krankenhausreform in Eckpunkten

Leistungsgruppen Die Finanzierung von Krankenhausbehandlungen soll künftig an Qualitätskriterien geknüpft werden. Dafür werden sie sogenannten Leistungsgruppen zugeordnet, für die Mindestvoraussetzungen (Anzahl jährlicher Behandlungen, technische und personelle Ausstattung) definiert werden. Nur Kliniken, die diese Voraussetzungen – innerhalb eines Übergangszeitraums - erfüllen, dürfen Behandlungen aus der jeweiligen Leistungsgruppe abrechnen. Komplexe Behandlungen – etwa bei Krebs, Schlaganfällen oder Gelenkersatz – sollen so anders als bisher nur in entsprechend ausgestatteten und erfahrenen Krankenhäusern erbracht werden. Die Einführung der Leistungsgruppen wird zur Zusammenlegung oder Schließung von Abteilungen oder ganzen Krankenhäusern führen – insbesondere in überversorgten Ballungsräumen. Allerdings machen auch jetzt schon regelmäßig Stationen und ganze Kliniken dicht - wegen finanzieller Schieflage oder Personalmangel. Dieses „kalte Kliniksterben“ soll die Reform verhindern.

Vorhaltepauschalen Damit trotz der Zentra­lisierung und Spezialisierung auch die auf dem Land notwendigen Grundversorger überleben, sollen Vorhaltepauschalen eingeführt werden. Bisher werden Kliniken nur für behandelte Fälle bezahlt, künftig durchschnittlich 60 Prozent der Kosten über diese Pauschalen abgedeckt.

Umsetzung Seit April liegt ein Referententwurf des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes vor. Die Länder forderten daraufhin eine umfassende Überarbeitung und Auswirkungs­analyse der Reform und drohten mit Klage. Neben Fundamentalkritik an der neuen Vergütungsystematik gibt es Streit über Ausnahmen, Übergangsfristen und Übernahme der Umbaukosten. Die Länder fürchten, dass ihr Einfluss auf die Krankenhausplanung untergraben wird. Auch von Kliniklobby und Krankenkassen gibt es Kritik. Bis Sommer soll das Gesetz durch den Bundestag, 2025 soll es in Kraft treten.

„Ich wusste 50 Jahre lang nicht, dass das noch jemand anderes hat als ich“, sagt der Mann, den wir hier Konrad Förster* nennen. Bei Morbus Hirschsprung fehlen die Ganglienzellen, Nervenzellen im Darm, ohne die der Stuhl nicht bis zum Ausgang transportiert werden kann. Bei einem totalen Morbus Hirschsprung ist der ganze Dickdarm betroffen, ohne Operation folgt der Darmverschluss. Förster ist einer der wenigen „Alten“ mit dieser Fehlbildung. In den 1960ern sind die meisten Babys mit totalem Morbus Hirschsprung gestorben. So wie der ältere Bruder von Förster, der nur wenige Monate alt wurde.

Förster hat sich eingerichtet: mit den Narben, die seinen Bauch durchfurchen – damals hat man noch nicht über den Anus operiert, sondern den ganzen Bauch aufgeschnitten. Mit einer Toilettenroutine, die seinen ganzen Tagesrhythmus bestimmt. „Wir können den Darm durch Spülen trainieren“, erzählt ihm Märzheuser. Das bedeutet: irgendwann nur noch ein Stuhlgang am Tag, mehr Freiheit. „Auch die Narben können wir noch hübsch machen“, sagt die Chirurgin, nachdem sie Konrad Förster untersucht hat. Er will es sich überlegen. „Falls Sie die Narben-OP machen“, sagt Märzheuser zum Abschied, „dann sagen Sie Bescheid, ich komme dazu.“

Als Konrad Förster aus der Tür ist, erzählt die Chirurgin von einer Zeit, in der es noch sehr viele Komplikationen bei der Operation von Morbus Hirschsprung gab. Die Pa­ti­en­t*in­nen wurden inkontinent, nicht selten ein entsetzliches Wundsein über Jahre hinweg, ein Krankenhausdasein in einer Zeit, in der die Eltern einmal in der Woche für eine Stunde zu Besuch kommen konnten.

Die Zeiten und Möglichkeiten haben sich geändert. Aber Komplikationen gibt es bis heute, trotz aller Fortschritte. Unter anderem, weil so schwer zu diagnostizieren ist, welcher Teil des Darms noch funktioniert, und weil ein Morbus Hirschsprung ganz anders operiert werden muss als andere Darmerkrankungen. Weil zu früh operiert wird und eben von Chirurg*innen, die so einen Fall einmal im Jahr sehen.

Noch heute gibt es immer wieder Leidenswege mit vielen Operationen. Ein Vierjähriger, schon 18-mal operiert, bevor er zu ihr kam; ein Anderthalbjähriger, 12-mal operiert: Märzheuser weiß noch die Namen, erinnert die Geschichten. Die Kinder selbst haben keine bewussten Erinnerungen an die schmerzvollen ersten Jahre. „Aber die Mütter weinen, wenn sie davon erzählen“, sagt die Kinderchirurgin.

Illustration: Oliver Sperl

Es gibt Zertifizierungen für Kliniken – auch für die Behandlung von Morbus Hirschsprung und anderen Fehlbildungen. Aber sie sind freiwillig und machten vor allem die guten Kliniken noch besser, sagt Miriam Wilms von SoMA. „Die Gelegenheitsversorger werden dadurch nicht davon abgehalten, weiter zu operieren.“ Bei Gelegenheitsversorgung könne keine Arbeitsroutine und ausreichende Erfahrung entstehen, mögliche Komplikationen würden häufig zu spät erkannt. Die notwendigen Nachsorgeprogramme anzubieten lohne sich nicht. Anders als in der Herzchirurgie misst sich der Erfolg der Behandlung bei diesen Fehlbildungen nicht vor allem im kurzfristigen Überleben. Sondern in langfristigen Parametern der Lebensqualität – Stuhl- oder Harninkontinenz, Sexualfunktionsstörungen. Deshalb lasse sich die Qualität der Kliniken schwerer vergleichen, sagt Wilms.

„Das Einzige, was gegen Gelegenheitseingriffe hilft, sind gesetzliche Maßnahmen“, sagt die Vertreterin der Selbsthilfe. Das Ziel von SoMA: eine Zentralisierung der Behandlungen in wenigen, besonders erfahrenen Kliniken. So dass Kinder, die mit Analatresie oder Morbus Hirschsprung geboren werden, künftig nur noch dort operiert werden, wo es zum Beispiel mindestens fünf Fälle im Jahr gibt. Die Hoffnungen sind groß, dass die Krankenhausreform dazu beitragen kann.

„Durch eine Konzentration von Leistungen in spezialisierten Kliniken und eine dadurch gesteigerte Behandlungsqualität könnten viele Lebensjahre gerettet und Todesfälle sowie unnötige Revisionsoperationen vermieden werden“, heißt es dazu passend im Entwurf der Krankenhausfinanzierungsreform aus dem Bundesgesundheitsministerium, der seit April vorliegt. Tatsächlich ist Zentralisierung eines der wesentlichen Ziele der Reform, um die seit über einem Jahr gerungen wird. Komplexe Eingriffe sollen nur noch dann bezahlt werden, wenn sie in dafür besonders ausgestatteten Krankenhäusern stattfinden. Denn Gelegenheitseingriffe sind auch in anderen Bereichen der Medizin ein Problem: beim Einsatz künstlicher Kniegelenke, bei Wirbelsäulenoperationen und Krebsbehandlungen zum Beispiel. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) betont gern, dass im europäischen Vergleich Deutschland zwar ein Spitzenreiter sei bei den Kosten fürs Gesundheitswesen, aber nur Mittelmaß in der Qualität.

In den kommenden Tagen soll im Kabinett über die Krankenhausfinanzierungsreform beraten werden. Im Hintergrund kämpfen die Bundesländer und Lobbyverbände um mehr Mitbestimmung. Mehr Zentralisierung bei komplexen Eingriffen wollen sie offiziell alle, aber über die Details gibt es erbitterten Streit: Wie konkret sollen die Vorgaben für die Qualität sein, welche Ausnahmen sollen gelten und wer zahlt für die Umbaukosten des Systems?

Was die Reform nun für die Kinder mit seltenen Fehlbildungen bringen wird? Zu derart detaillierten Fragen werde man sich im laufenden Verfahren nicht äußern, heißt es aus dem Bundesgesundheitsministerium. Bis zum Sommer will Karl Lauterbach das Reformgesetz durch den Bundestag bringen. „Zum aktuellen Zeitpunkt ist völlig unklar, ob und wie die Reform die besondere Situation von Kindern mit Fehlbildungen in Deutschland verbessert“, sagt Miriam Wilms von SoMA. Das komme auf die genaue Gestaltung der Qualitätskriterien an, vor allem auf die Verankerung einer Mindestfallzahl pro Klinik.

Aktuell ist völlig unklar, ob die Krankenhausreform die besondere Situation von Kindern mit Fehlbildungen verbessert

Miriam Wilms, SoMA, Betroffenenverband

Auch das bereits verabschiedete Transparenzgesetz ist Teil der großen Krankenhausreform: In einem Klinikatlas sollen ab 16. Mai Fallzahlen und Komplikationen je nach Eingriff und Klinik für alle einsehbar veröffentlicht werden. Auch hier ist noch unklar, ob Angaben zu den seltenen Fehlbildungen veröffentlicht werden. Wenn ja, dann könnten Eltern immerhin schon einmal vergleichen, wie viel Erfahrung die Kliniken mit dem jeweiligen Eingriff haben.

Falls die Krankenhausreform die seltenen Fehlbildungen nicht ausreichend berücksichtigt, setzt die Selbsthilfe auf eine Alternative: Das oberste Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, der Gemeinsame Bundesausschuss, kann gesetzliche Mindestmengen festlegen, an die alle Krankenhäuser gebunden sind. So dürfen zum Beispiel komplexe Eingriffe an der Speiseröhre bei Erwachsenen nur noch in Kliniken mit mindestens 26 Fällen im Jahr operiert werden. Auch für Gelenkersatz und einzelne Krebsbehandlungen gibt es bereits solche verbindlichen Mindestmengen. Um über die Festlegung einer neuen Mindestmenge zu beraten, brauche es Hinweise aus der Versorgung und Studien, die den Zusammenhang zwischen Fallzahl und Qualität klar belegen, heißt es vom Gemeinsamen Bundesausschuss. Aktuell seien keine Verfahren zu seltenen Fehlbildungen wie Analatresie und Morbus Hirschsprung geplant.

Bei der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie, die die Interessen der Kin­der­chir­ur­g*­in­nen vertritt, ist man skeptisch – sowohl was die Auswirkungen der Klinikreform als auch von gesetzlichen Mindestmengen betrifft. Zwar spricht sich auch die Fachgesellschaft „für eine Zentralisierung seltener Erkrankungen“ aus, wie Präsidentin Barbara Ludwikowski betont. Auch eine schrittweise Einführung von Mindestmengen sei denkbar. Aber wenn auf einmal nur noch wenige Kliniken bestimmte Eingriffe operieren dürften, dann würden diese Einrichtungen den Ansturm der Pa­ti­en­t*in­nen nicht bewältigen können. Auf die Frage nach der Notwendigkeit von Spezialisierungen heißt es von der Fachgesellschaft: Ein geübter Kinderchirurg könne durchaus auch verschiedene Fehlbildungen sehr gut operieren.

Bei SoMA ist man trotz aller Ungewissheit optimistisch, was die Veränderungen in der Fehlbildungschirurgie betrifft: Seit 20 Jahren kämpfe der Verein für mehr Zentralisierung. Aber die Chance, etwas zu ändern, sei noch nie so groß wie jetzt gewesen. Eine Zentralisierung, sagt Miriam Wilms, werde letztlich allen nutzen: den betroffenen Kindern und Eltern zuallererst, und das sei das Wichtigste. Aber auch einer neuen Generation spezialisierter Kinderchirurg:innen.

An der Tür von Stefanie Märzheuser in Rostock klopft es. Davor sitzt auf einer Bank ein Mädchen, 4 Jahre alt, mit seinen Eltern. Sie wollen nur schnell Hallo sagen, und Danke. „Seit Anfang des Jahres müssen wir nicht mehr spülen, keine Windel mehr“, sagt die Mutter. „You made my day“, ruft Märzheuser begeistert. Immer wenn solche Nachrichten kommen, „dann weiß ich, warum ich das mache und manchmal nachts nicht schlafe“.

*Namen der Pa­ti­en­ten wurden geändert

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21 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • In ein und demselben KH kann man Glück oder Pech haben. Unser Sohn hat sich mit 13 Monaten die Fingerkuppe des Zeigefingers ab dem Nagelbett schräg nach vorne über das Knochenende abgeschert, als ihm die Sitzklappe einer Eckbank daraufgefallen war.



    Ich mit ihm und der Kuppe in Mull ins naheliegende Kinderkrankenhaus. Ein junger Chirurg nimmt sich uns an, telefoniert dann 15 Minuten mit einem Kollegen, den er von seiner Ausbildung kennt, und macht sich gut 2h ans Werk. Entschuldigt sich fürs Telefonieren und meint noch, dass es für ihn eben der erste solche Fall sei.

    Nachuntersuchung zwei Tage später: Stationschef nimmt sich des jungen Patienten an und grummelt: Was hat den der Junge Kollege da gemacht, das wird doch nie etwas. Hätte er gleich eine anständige Stumpfversorgung gemacht, würde der Finger bald ganz ok aussehen. Jetzt könne bei eintretendem Wundbrand sogar die Amputation des vorderen Fingergliedes drohen.

    Er lies dann den jungen Kollegen die weitere Versorgung machen, nach zwei Wochen konnte der Schienenverband ab, heute (19 Jahre später) wächst der Nagel ca. 4° aus der Achsrichtung des Fingers und ist etwas verformt. Aber er ist da, und der Finger voll beweglich, auch die Sensorik der Fingerkuppe kam in den Monaten nach der OP zurück.

    Hätte uns am Tag X der Chef empfangen, wäre der Finger heute kürzer!

  • Die geringe Qualifikation der handelnden Personen ist im deutschen Gesundheitssystem das Hauptproblem.

    • @Ernst Jandl:

      Qualifikation ist nicht ein Stück Papier mit einem amtlichen Stempel drauf.

  • Krankenhausreform Licht und Schatten



    Im Grunde ist die Idee gut, denkt man alleine und nur an das KLnowHow.

    Jedoch wird es mit dieser Krankenhausreform bald nur noch Spezialisten in Großstädten geben, denn welcher Chirurg will schon ein Leben lang nur 0815-Grundversorgung machen. Alle mit spezialisiertem KnowHow werden in die großen Kliniken drängen, der "Durchschnittsarzt" bleibt auf dem Land zurück. Die Überlebenschancen im Notfall sind jetzt schon in den Großstädten besser als auf dem Land. Mit dieser Reform ist die Notfallversorgung auf dem Land auf noch niedrigerem Niveau.



    Ich anerkenne den grundlegenden Sinn, dass Krankenhäuser nur die Behandlungen machen sollen, welche sie auch qualitativ gut können, doch sollte sich dies nicht auf wenige Kliniken in Großstädten konzentrieren, sondern über die Fläche verteilen.



    Dann ist halt auch mal der Herzklappenspezialist auf der Klinik im Land und der fürs Knie und Hüfte in der Stadt.



    Aber den ländlichen Raum auszubluten und komplexes Wissen und Können nur noch in Städten vorzuhalten finde ich aus Sicht der komplexen Notfallversorgung, welche unmittelbare Chirurgie bedingt falsch und ungerecht.



    Die ersten 20 Minuten entscheiden über alles heißt ein wichtiger Spruch der Retter, wenn sie verzweifelt ein passendes Krankenhaus in der Nähe brauchen.

  • Wir haben einen Interessenkonflikt des medizinischen Systems.



    Kliniken und Ärzte sind angehalten, Behandlungen durchzuführen, für die sie nicht am besten geeignet sind.

    Das liegt am, bezahlten Zeitaufwand pro Patient, und Zeitaufwand für Weiterbildung, denn nicht jeder kann alles wissen und alles machen. Da ist sehr wenig Raum für den abweichenden Einzelfall.

    Der Wunsch zu helfen und die ökonomische Notwendigkeit stehen auf der einen Seite, das Interesse des Patienten nach der richtigen Behandlung auf der anderen.

    Die notwendige Spezialisierung ist eine Antwort auf die erkannte Komplexität von Erkrankungen, die eben nicht jeder behandeln kann. Wer mehr Patienten sieht, kann mehr erkennen, wer mehr operiert, ist sicherer, das ist alles.

    Das Problem ist die fehlende Transparenz für Ärzte wie Patienten, zu wissen, wer die beste Adresse für die Behandlung ist. Und auch die Bereitschaft, die Grenzen des eigenen Könnens einzugestehen.

  • Spezialisierung hat ihren Preis. Damit meine ich nicht nur die Kosten, die für das Gesundheitssystem, PatientInnen und Angehörige entstehen. Ich meine vor allem die Folgeprobleme für eine ausgewogene Grundversorgung aller PatientInnen. Dazu 3 Punkte:

    (i) Die Differenzierung von Spezialkliniken setzt voraus, dass deren Qualität permanent, unbestechlich und zuverlässig beobachtet wird. Das erfordert zusätzlichen (bürokratischen) Aufwand. Ich habe auch noch kein solches 'Überwachungssystem' kennengelernt, dass nicht manipulierbar wäre und fehlerfrei funktioniert.

    (ii) Schon heute ziehen junge ÄrztInnen Spezialisierungen vor, die ein Leben in der großen Stadt, bequemeres Arbeiten und besseren Verdienst ermöglichen. Die Versorgungskrise auf dem Land und die schwindende Zahl von allgemeinmedizinischen Praxen kommt ja nicht von ungefähr.

    (iii) NachwuchsmedizinerInnen brauchen Ausbildungsplätze, wo sie ihr Handwerk grundlegend und in einer Spezialisierung lernen können. Wenn für Letzteres aber nur noch eine handvoll Kliniken offen stehen, wird es umso schwerer, dass die 'Besten' eine Ausbildungsmöglichkeit bekommen.

    (iv) Wie sollen Spezialkliniken mit Zusatzerkrankungen, Komorbidität und weiteren benötigten Spezialisierungen umgehen? Sollen sie dann doch wieder möglichst das ganze medizinische Spektrum anbieten oder sollen PatientInnen und/oder ÄrztInnen dann nicht mehr nur über den Klinikcampus sondern übers Land 'shuttlen'?

    In einer perfekten Welt würden die theoretisch besten System die besten Ergebnisse bringen. An der Realität scheitert die Theorie aber immer wieder. Die viel grundsätzlicheren Fragen bleiben indessen ungelöst: Was bedeuten eigentlich Gesundheit und gesundes Leben? Was sind wir als Gesellschaft bereit, für Prävention, kurative Behandlung, Therapie und Pflege zu 'zahlen'?

    • @Stoersender:

      Problematik Stadt/Land richtig gut erklärt. Ich stimme ihnen zu, Danke.

  • Ich habe ein bisschen Sorge, dass es dazu kommen könnte, dass die OPs dann auch im Ernstfall nicht mehr gemacht werden und sich dann darauf berufen würde, man hätte es ja nicht gedurft. Aus Angst vor Konsequenzen, wenn ein Fehler gemacht wird. Es ist natürlich auch nicht immer sicher, dass die mit entsprechender Erfahrung verfügbar sind.

    Eine zentrale Übersicht, wer auf bestimmte Operationen spezialisiert ist, wäre schon sehr hilfreich. Aber hier muss man auch wieder darauf achten, dass die dann nicht irgendwann in Rente sind und niemand anderes mehr da.

    • @ImInternet:

      Es geht hier doch aber doch nicht um Not-OPs, die durchgeführt werden müssen, um einen Patienten akut am Leben zu halten, sondern um komplizierte OPs, die mit etwas Vorlauf geplant werden können und müssen. Das zu unterscheiden ist das Mindeste, was ich von einem Arzt/Chirurgen etwarte. Ansonsten hat er seinen Job verfehlt.

      Ist doch aber auch im Text so beschrieben.

  • "Würden Sie Ihr Kind von einem Chirurgen behandeln lassen, der das nur einmal im Jahr macht?"

    Eindeutig ja!! Wenn ich Vertrauen in den Operateur habe und er es sich zutraut - keine Frage.

    • @tabernac:

      Eindeutig Nein, wenn ich weiß, dass 200 KM entfernt ein Chirurg ist, der solche Eingriffe 20 mal im Jahr durchführt.

      • @BrendanB:

        Und wie wollen sie das beurteilen, auf Grund einer Excel-Liste?



        Beispiel: Arzt A behandelt nur Krebsfälle mit guten Chancen. Arzt B, ein Guru, hilft denen mit sehr geringer Chance, weil er doch noch jeden 20ten retten kann. In jeder Statistik würde Arzt A als der mit den besseren Endresultaten stehen.



        Oder brutaler gesagt: Ein Chirurg sucht sich seine Patienten so aus , dass er auf der Liste ganz oben steht, dann reißen sich alle KH um ihn.

        • @Rudi Hamm:

          Die Fälle und OPs inklusive Komplikationen werden öffentlich gemacht. Dann können Sie als Patient schon mal eine Vorauswahl treffen. Ein Retinoblastom würde ich nur in Essen operieren und behandeln lassen. Sie können ihr Kind ja, um die ländliche Versorgung zu unterstützen, in einem beliebigen Krankenhaus in der Provinz behandeln lassen. Die Ärzte dort werden schon wissen, was sie tun.

          Und Kinder, die bspw. ohne Analöffnung geboren werden, dürfen nur in bestimmten Krankenhäusern operiert werden. Nach welchen Kriterien das entschieden wird, unterscheidet sich je nach Diagnose. Wird doch aber auch im Text anschaulich dargestellt.

  • Aus dem Artikel lese ich die Forderung solche Fälle nur noch von absoluten Spezialisten operieren zu lassen - egal welche zusätzlichen Kosten dabei entstehen.

    Ich stimme einem vorherigen Kommentator zu, dass das Niveau der medizinischen Behandlung in D. zu den höchsten auf der Welt zählt. Dass die Behandlung mancher Kassenpatienten verbesserungswürdig ist. stimmt sicher. Auch eine Pflichmitgliedschaft in der öffentlichen Krankenkasse würde die finanzielle Situation verbessern- - ebenso wie in einer Rentenkasse. (Wer sich zusätzlich versichern will und die MIttel hat, kann das gerne tun.

    Andere Staaten zeigen uns, wie das ginge. Selbst im oft kritisierten Italien ist die medizinische Versorgung um eine Klasse besser als in hier.

    • @fvaderno:

      "Aus dem Artikel lese ich die Forderung solche Fälle nur noch von absoluten Spezialisten operieren zu lassen - egal welche zusätzlichen Kosten dabei entstehen."

      Sie glauben, einen Anderthalbjährigen 18 mal zu operieren, sei besser und billiger als ihn von Spezialisten vielleicht drei oder vier mal operieren zu lassen?

      Aus dem Artikel geht doch klar hervor, dass solche Fälle von Spezialisten operiert werden sollten, weil nur die diese Operationen tatsächlich können und dadurch erstens den Patienten und Angehörigen jahrelanges Leid und viele Korrekturoperationen ersparen und zweitens damit unterm Strich sehr viel günstiger sind.

      • @BrendanB:

        Völlig richtig. Und wo da signifikante zusätzliche Kosten entstehen sollen, ist mir auch nicht klar. Anreise etc. ist ein solchen Unternehmungen ein vernachlässigbarer Kostenfaktor.

  • Danke für diesen tollen Artikel, Frau Märzhäuser ist wirklich eine außergewöhnliche Ärztin, die ich selbst im Studium kennenlernen durfte.



    Was ich als Arzt nicht verstehe: als Kinderchirurg muss es mir doch klar sein, dass ich nicht jede OP beherrsche. Oberste Maxime muss (!) die bestmögliche Versorgung meines Patienten sein, erst recht eines Kindes! Wie kann man es mit seinem ärztlichen Gewissen vereinbaren, bewusst seinem Patienten diese zu verweigern...?



    Da brauchen wir über Vorschriften gar nicht zu reden, hier ist ärztliche Verantwortung gefragt!



    (und da steckt wohl auch eines der Probleme dahinter - Ärzte in Kliniken sind nicht mehr frei in ihren ärztlichen Entscheidungen, sondern werden von der Geschäftsführung gesteuert)

  • Trotz aller Kritik liegen wird bei bezahlbaren(!) Gesundheitssystemen Weltweit ganz weit vorne. Besser geht natürlich immer, aber besser will auch bezahlt sein. Für 20% mehr KK-Beiträge kann man mehr machen, nur wer will schon 20% mehr Beiträge zahlen?

    • @Rudi Hamm:

      In den im Text beschriebenen Fällen geht es aber nun ausnahmsweise mal nicht primär um mehr Geld, sondern darum das Geld, das ohnehin bezahlt wird, effizient einzusetzen. Eine gelungene OP von einem erfahrenen Chirurg spart erstens teure Korrektur OPs und den Patienten und Angehörigen unendlich viel Leid.

      • @BrendanB:

        Ich habe das schon verstanden, Know How Konzentration für Spezialisten und Basisabdeckung für andere ländliche Krankenhäuser. Das klingt ja auch irgendwie logisch, doch hat es auch Schattenseiten.



        Wenn ländliche Krankenhäuser fast nur noch Basisversorgung machen, können sie kaum Spezialisten für sich gewinnen.



        Dann ist bald eine gute ärztliche Versorgung außerhalb von 0815-Fällen nur noch in Großstädten gegeben.



        Und dann werden alle zu "Pendlern", welche ihre Kinder oder Partner 60km weiter im KH besuchen.

        • @Rudi Hamm:

          Nein, so muss das nicht kommen. Aber ein Spezialist in einem Landkrankenhaus, in dem ein Fall, für das der Spezialist Spezialist ist, einmal im Jahr vorkommt, ist ein Widerspruch in sich. Sie finden diese Spezialisten schon jetzt nicht in einem normalen Krankenhaus - die geschilderten Fälle im Text veranschaulichen das doch sehr deutlich. Operiert wird dann dieser Einzelfall eben nicht von dem Spezialisten, sondern von dem Kinderchirurgen, der eben zufällig da ist. Mit dem Erfolg, dass 18 Korrekturoperationen notwendig sind. Das könnte man günstiger und besser für die Patienten haben, indem eben auf diese Spezialisierungen geachtet wird.

          Wenn Sie eine OP benötigen, die nur eine Handvoll Chirurgen in Deutschland durchführen können, gehen Sie doch auch nicht ins nächstbeste Landkrankenhaus, um Ihren Beitrag zur ländlichen Basisversorgung zu leisten.