Klimaproteste gehen weiter: Nach dem Streik ist vor dem Streik
Aktivist*innen demonstrieren vor dem Kanzleramt, heute verkündet Neukölln den Klimanotstand und bald gibt es ein Klimapaket von unten.
Betz hat das Camp mitorganisiert. Es soll Initiativen, Organisationen und Einzelpersonen aus der Klimabewegung Raum für Workshops und Vernetzung bieten – und das in Sichtweite des Reichstagsgebäudes. Zum Beispiel ein Workshop zum Thema „Wie reagiere ich am besten auf Klimakritik?“.
Warten auf die Politik ist überhaupt das Thema der letzten Tage: Nachdem vergangenen Freitag fast 300.000 Menschen für den Klimastreik in Berlin auf die Straße gegangen waren, verabschiedete die Regierung ein Klimapaket, das weit hinter die Demo-Forderungen zurückfiel. Auch deswegen hat Mittwoch früh um zehn erneut eine Demo die Kanzlerin, die frisch aus New York zurückgekehrt war, in Empfang genommen. Ihr Slogan: „How dare you?“ – Wie kannst du es wagen?
Auch für Rebe Rinser ist das Paket eine Enttäuschung. „Das Warten auf die Politik hat jetzt ein Ende“, sagt sie, während sie im Zelt der Initiative „Klimaplan von unten“ steht. Die Initiative möchte einen besseren Klimaplan ausarbeiten, bei dem jede und jeder sich bei „Write-ins“ mit Vorschlägen einbringen kann.
Diese werden dann von Expert*innen geprüft und zu einem konkreten Katalog aus Maßnahmen zusammengeschrieben. Der Plan soll darauf abzielen, die Klimaziele des Pariser Abkommens zu erreichen. Am Donnerstag von 14 bis 18 Uhr findet das erste „Write-in“ im Camp statt, beteiligen könne sich jeder.
Berliner Bezirke rufen Klimanotstand aus
Während die Bundespolitik die Klimademonstrant*innen enttäuscht hat, kommt das Thema in der lokalen Politik immer mehr an. Schon Mitte August hat der Bezirk Pankow als erster in Berlin den Klimanotstand erklärt. Das Gleiche soll nun in Neukölln passieren: Auf Antrag der Linksfraktion wird der Umweltausschuss heute wohl den Klimanotstand ausrufen.
Ganz klar ist nicht, was Bezirke in puncto Klima tun können, aber Ideen gibt es viele: die Pankower SPD hat vorgeschlagen, bezirkliche Gebäude mit erneuerbaren Energien zu versorgen und eine energiesparende Raum- und Bauleitplanung einzuführen.
Und vor allem könnte die Einbeziehung klimapolitischer Überlegungen bei der Planung neuer Viertel etwas bewirken. „In Pankow liegen 20 Prozent der Wohnungsbaupotenziale von Berlin. Das hat riesige Auswirkungen“, sagte Baustadtrat Vollrad Kuhn (Grüne) kürzlich der Morgenpost.
Auch die Erhaltung oder Erweiterung von Grünflächen, eine ureigene Bezirksaufgabe, hat Auswirkungen aufs (lokale) Klima. Welche genau, wird der Stadtökologe Ingo Kowarik vom Institut für Ökologie der Technischen Universität und Landesbeauftragter für Naturschutz und Landschaftspflege am heutigen Donnerstag den Neuköllner Bezirkspolitikern erklären (17 Uhr, Rathaus Neukölln, Raum A 105, Karl-Marx-Str. 83). Der Termin ist öffentlich.
Friedrichshain-Kreuzberg stellt um
Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ist über das Stadium der Absichtserklärungen bereits hinaus. Der Fuhrpark des Bezirksamts wird gerade umgestellt. An erster Stelle steht nach Angaben von Umweltstadträtin Clara Herrmann (Grüne) der Fahrradverkehr. Beim Straßen- und Grünflächenamt werden schon bezirkseigene Fahrräder und E-Lastenräder eingesetzt (taz berichtete). Auch sechs elektrisch betriebene Pkws und Nutzfahrzeuge gibt es, weitere sollen folgen.
Clara Herrmann, Umweltstadträtin Friedrichshain-Kreuzberg
Eine Million Euro sind Herrmann zufolge im Haushalt 2010/21 für die Umstellung vorgesehen. Zudem sei geplant, die Bunkerberge im Volkspark Friedrichshain zu einem Wald mit heimischen Bäumen und Sträuchern umzugestalten.
Die Dächer der bezirkseigenen Gebäude werden laut Herrmann auf die Eignung für Photovoltaikanlagen überprüft, die ersten Anlagen seien geplant. Auch mehr Trinkbrunnen würden gebaut, um die Menschen klimafreundlich mit Trinkwasser zu versorgen. Was sie am Freitag bei der großen Klimastreik-Demo gesehen und gehört hat, habe sie sehr bewegt, sagt Herrmann – „wir müssen noch viel mehr tun“.
Brandanschlag ist keine neue Aktionsform
Einen kleinen Dämpfer erlitt die Klimabewegung am Montag, als der S-Bahn-Verkehr zwischen Karlshorst und Wuhlheide durch einen Brandanschlag auf Kabelschächte lahmgelegt wurde. Weil die Täter in ihrem Bekennerschreiben Bezug auf Fridays for Future und den Klimastreik genommen haben, stehen die jugendlichen Aktivist*innen unter Rechtfertigungsdruck. Dabei deutet nichts darauf hin, dass die Täter zu den Klimaaktivist*innen gehören.
Seit 2011 kam es in Berlin zu mindestens sechs Anschlägen, etwa auf Bahnanlagen oder Stromnetze. Es wurden stets aktuelle politische Themen zur Rechtfertigung herangezogen: vom Konflikt in Kurdistan bis zum G20-Gipel. Die aktuelle Sabotage ist als Fortführung einer anarchistischen Anschlagsserie zu werten, nicht als neue Aktionsform der Klimabewegung.
Seraphina Rustemeyer schaut im Camp vor dem Kanzleramt auf ihr Werk: T-Shirts mit Schriftzügen wie „Hauptsache dem DAX gehts gut“. Sie hat die letzten Stunden vor dem Kinderzelt Siebdrucke hergestellt. Rustemeyer hat vergangene Nacht auf einem Feldbett im Camp geschlafen. Sie sagt: „Man ist hier völlig in seiner eigenen Blase. Und dann guckt man hoch und sieht da drüber die Politiker*innen vorbeigehen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“