Kleine Kapitalismus-Wortkunde: Schnell mal Marx verstehen
Viele Begriffe von Marx gehören nun zur Alltagssprache. Wie waren sie gemeint? Eine Übersicht der wichtigsten Schlagworte.
1. Materialismus
Materialismus ist ein Begriff, der das Ringen von Marx um Erkenntnis zusammenfasst. Um Materie, Material oder etwas Stoffliches geht es dabei vordergründig nicht. Auch nicht darum, nur auf das Materielle bezogen zu sein, nur dem Habenwollen nachzugeben.
Mit Materialismus ist vielmehr ein Denkansatz von Marx gemeint: Er wollte, dass man bei der Betrachtung der Welt auf das guckt, was da ist, und daraus Ideen entwickelt, wie man Wirklichkeit, also die Welt der Arbeit und des Alltags, verändern muss.
Dies ist eine Gegenposition zu Hegels Idealismus, der von den Ideen her die Wirklichkeit verändern will.
Für Hegel war der tugendhafte Staat das Ideal, das auf die Bürger wirkt. Marx hält dagegen: Nein, nein, die Bürger machen den Staat. Um das zu können, muss der, der die Wirklichkeit verändern will, selbst Teil dieser Wirklichkeit sein.
Und weil das so ist, ist der Staat nicht die Gesellschaft, sondern er steht der Gesellschaft gegenüber und ist ihr Instrument.
2. Der Warencharakter der Arbeit
Marx wollte herausfinden, ob der Dynamik der modernen Gesellschaft ein Gesetz zugrunde liegt. Dafür begann er, was er in der Gesellschaft sah, immer weiter zu hinterfragen. Seine Ausgangsbeobachtung dabei: Der Reichtum der modernen Gesellschaft erscheint in Form einer ungeheuren Warenansammlung.
Und nun fragt er weiter: Was genau ist Ware? Die Antwort: Etwas, in dem Arbeit steckt, denn um Waren herzustellen, wird Arbeit benötigt. – Und was ist dann Arbeit? – Die Herstellung von Nutzen, von nützlichen Dingen, also Gebrauchswerten. – Wie kommt man an den Nutzen? (Das meiste kann man ja nicht selbst herstellen.) – Über Austausch. – Und wie gelingt Austausch? – Indem der Aufwand für die Produktion des Nutzens durch eine Tauschware, die vom Wert her dem Produkt entspricht, ausgelöst wird.
Von Marx’ Schriften sind Wörter in den Alltagssgebrauch gesickert. „Mehrwert“ etwa, „Verdinglichung“, „Entfremdung“, „Warenfetisch“. Oft werden die Wörter mit neuen Bedeutungen versehen.
Was Marx dagegen meinte, wissen vor allem die, die sich mit seinen Schriften beschäftigt haben. Reinfried Musch ist so einer. Er gab an der Humboldt-Universität „Kapital“-Seminare, schrieb eine Doktorarbeit zu „Reproduktion der Arbeitskraft bei Marx“ und war in der DDR „Bereichsökonom“ in einem Kabelwerk. 1.000 Arbeiter und Arbeiterinnen umfasste sein Bereich. Seit 13 Jahren versucht er dafür zu sorgen, dass die taz-Redaktion schuldenfrei arbeitet. Wir baten ihn, wichtige Begriffe aus dem Kapital von Marx zu erklären.
Um die komplexe Theorie in der Auseinandersetzung mit Leuten, die weniger Marx-kundig sind, verständlich zu machen, schlüpfte die taz-Redakteurin Waltraud Schwab, die den Kapitalkurs vor 35 Jahren nicht beendet hat, in die Rolle derjenigen, die das Schwierige einfach aufschreiben soll. Die folgenden Definitionen sind in langen Gesprächen der beiden miteinander entstanden.
Nun sieht er ein Problem: Dass nämlich alle, die ihren Aufwand im Tausch ausgelöst bekommen wollen, mit allen anderen, die das auch wollen, konkurrieren. Marx zieht daraus den Schluss: Eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich in dieser Weise verhalten, baut darauf, dass ein Teil der Warenproduzenten die Produktivität steigert, um den Aufwand zu senken, ein anderer Teil aber untergeht, weil er das nicht schafft, und alle daher in ständiger Konkurrenz zueinander stehen.
Für Marx ist die Konkurrenz ein Gesetz der modernen Gesellschaft. Sie ist für alle eine ungeheure Herausforderung, weil dadurch große Unsicherheiten entstehen. Das ist die Folge, wenn Arbeit Ware ist.
3. Entfremdung
Verdinglichung, Versachlichung, Fetischisierung sind drei Formen der Entfremdung, die nach Marx in der Produktion der Waren zwingend entsteht.
3.1. Verdinglichung
Marx’ Überlegungen gehen von der Frage aus, was Reichtum ist, und führen zu der Beobachtung, dass kleine Warenproduzenten in der vorkapitalistischen Zeit nur kleinen Reichtum schaffen konnten.
Der bescheidene Wohlstand ist aber trotzdem großartig. Die Leute produzierten frei und sie hatten nun Dinge. Solche, mit denen sie produzieren konnten, und solche zum Konsumieren. Dass Städte etwa aufblühten in den Anfängen der Warenproduktion, hat etwas mit den Dingen zu tun, die plötzlich da waren.
... und seine Abenteuer im Kapitalismus
Wohlstand zeigt sich daran, dass Menschen Dinge um sich haben. Sogar unsere Beziehungen sind dinglich vermittelt: Dinge sind zuverlässig. Dinge ärgern nicht. Dinge bauen Distanz auf, um Nähe auszuhalten. Um Dinge kann man streiten. Dinge verkörpern unsere Zivilisation. Wohlstand und Wohlfahrt gehen nicht ohne die Welt der Dinge. Verdinglichung bedeutet demnach: Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Dinge Grundlage sind.
3.2. Versachlichung
Durch zunehmende Routine bei der Warenproduktion verändert sich der Blick des Produzenten jedoch: Nicht mehr die Herstellung eines Unikats, sondern der Austausch größerer Mengen gleicher Produkte rückt in den Vordergrund.
Dadurch entsteht eine größere Distanz des Produzenten sowohl zu seinen Werkzeugen als auch zum Produkt. Dies ist der erste Schritt der Versachlichung und damit nach Marx der erste Schritt der Entfremdung. Der nächste Schritt der Versachlichung tritt ein, wenn die Austauschware gegen Geld getauscht wird.
Die Ware, die der Produzent hergestellt hat, verschwindet nun im Geld, und die Ware, die er hätte dafür bekommen können, verschwindet ebenfalls im Geld. Das Ding, das einen konkreten Zweck erfüllen sollte, verwandelt sich in eine abstrakte Sache.
3.3. Fetischisierung
Die Versachlichung stellt die Beziehung zwischen Produzenten und Konsumenten einseitig dar – sie ist nur noch auf den Austausch gerichtet. Der nächste Schritt der Entfremdung tritt ein, wenn der Produzent seine Handelsfunktion an Händler abgibt. Er produziert zwar noch, verkauft aber alles an einen Händler, der nun den Tauschprozess vollzieht.
Gegen einen Preisabschlag gibt der Produzent in der Regel auch einen Teil seines Tauschrisikos ab. Der Produzent rutscht dadurch in die gegenteilige Rolle, er taucht auf dem Markt nur noch als Käufer auf. Damit verschwindet aber der Produzent auch im Konsumenten. Der Käufermarkt wird sein Ort. Es tritt also eine völlige „Verkehrung“ der Verhältnisse ein – Marx nennt das so.
Die Verkehrung führt dazu, dass für den Produzenten die verkehrte Wahrnehmung das Wirkliche ist: So wird die Ware zum Fetisch. Der Produzent wird sich als Teil des Marktes fühlen, obwohl er den Markt ursprünglich gebildet hat. Jetzt wenden Geld und Markt ihn an; er ist Objekt der Ware und nicht die Ware sein Objekt. Das erscheint nun völlig normal. Und je größer die Produktion, desto mehr tritt der Produzent hinter dem Käufer zurück.
Am Ende dreht sich alles um Konsum mittels Geld. In diesem Prozess steckt eine ungeheure Antriebskraft, noch mehr und besser und schneller zu produzieren.
4. Mehrwert
Mit dem, was wir bisher herausgefunden haben, werde, fand Marx, nicht der große Reichtum der bürgerlichen Gesellschaft erklärt, sondern der kleine Reichtum der Handwerker. Der große Reichtum kann nicht von Schwankungen zwischen Angebot und Nachfrage kommen oder von der Differenz zwischen dem Wert einer Ware und ihrem Preis, sondern, überlegte Marx, es muss ein Medium geben, das mehr Wert produziert, als es selbst verbraucht.
Wo jedoch kommt dieses Mehr an Wert, dieser Mehrwert her, der die Quelle großen Reichtums ist? Für Marx ist klar, dieses Medium, das Mehrwert schafft, muss irgendwie mit der Arbeit zu tun haben. Der Mehrwert muss aus der Anwendung einer besonderen Ware kommen, deren Kauf mehr Wert einbringt, als zu ihrem Erhalt nötig ist. Und diese Ware, sagt Marx, ist die Arbeitskraft des doppelt freien Arbeiters. Frei ist er von Produktionsmitteln (sonst wäre er Unternehmer) und frei ist er auch im politischen Sinne (anders als Leibeigene, Sklaven oder 1-Euro-Jobber). Er muss weniger als seine Arbeit anbieten: nämlich seine Arbeitskraft.
Die Fähigkeit, unentgeltlich Mehrarbeit zu leisten, ist ein besonderer Gebrauchswert dieser Ware Arbeitskraft. Im Unterschied nämlich zu einem einfachen Warenproduzenten, der seine Arbeit als Produkt verkauft, muss der Käufer bei einem, der seine Arbeitskraft verkauft, nur das bezahlen, was nötig ist, damit die Arbeitskraft des Arbeitskraftverkäufers nicht versiegt.
Zum 200. Geburtstag des großen Ökonomen, Denkrevolutionärs und Genussmenschen: Eine Sonderausgabe zu Karl Marx, mit 12 Seiten – in der taz am wochenende vom 5./6.Mai 2018. Außerdem: Vor einem Jahr zog "En Marche" ins französische Parlament ein. Die Partei wollte Bürger stärker an der repräsentativen Demokratie beteiligen. Haben die Partei und Emmanuel Macron ihr Versprechen erfüllt? Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Auf diese Differenz setzt der Käufer. Der Käufer weiß, einer, der gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, weil er keine Produktionsmittel hat, ist auch gezwungen, so viel zu arbeiten wie der Unternehmer von ihm verlangt und das muss mehr sein, als für den täglichen Erhalt der Arbeitskraft des Arbeiters nötig ist.
Dadurch entsteht Mehrwert, den sich der Käufer „äquivalenzlos aneignen kann“, so Marx. Diesen Vorgang nennt Marx „Ausbeutung“. Der Käufer geht selbstverständlich davon aus, dass der Mehrwert ihm gehört, er hat den Arbeiter ja bezahlt. Laut Gesetz der Warenwirtschaft hat der Käufer sogar einen legitimen Anspruch darauf.
Aber, taucht nun die Frage auf, wie groß ist denn der Wert der Arbeitskraft? Dabei kommt Marx zu dem Schluss, dass es nicht reicht, den Verkäufer der Arbeitskraft nur in die Lage zu versetzen, am nächsten Tag wieder seine Arbeitskraft zu verkaufen, sondern in den Wert der Arbeitskraft müsse auch ein „historisch-moralisches Element“ einfließen, um zu gewährleisten, dass die Arbeitskraft dauerhaft und in der nötigen Qualität zur Verfügung steht: nämlich Bildung, Gesundheit, die Kosten für eine Familie und der Gewerkschaftsbeitrag. Letzteres, um zu verhindern, dass die, die die Ware Arbeitskraft verkaufen, gegeneinander konkurrieren. Das ist durchaus auch im Interesse des Kapitalisten, um sicher zu sein, dass er seinen Mehrwert bekommt.
Indem die Gewerkschaften sich dafür einsetzen, die Arbeitskraft des Arbeitenden über gute Arbeitslöhne dauerhaft zu sicher, sichern sie paradoxerweise auch die Mehrwertproduktion – und ermöglichen damit die Ausbeutung.
5. Akkumulation
Um Mehrwert zu produzieren, muss die Arbeitskraft zur Ware werden. Marx sieht, dass die Unternehmen erfinderisch werden, wenn es um die Abschöpfung des Mehrwerts geht. Begrenzen Staat und Gewerkschaften etwa die Arbeitszeit, überlegen die Unternehmen, wie sie doch an den Mehrwert kommen, beispielsweise durch mehr und schnellere Maschinen.
Durch immer mehr Mehrwertabschöpfung wächst auch das Kapital, also der Reichtum. Das ist die erste Stufe der Akkumulation. Marx nennt das: „Konzentration des Kapitals“. Allerdings wächst der Reichtum über die Konzentration eigentlich nur langsam.
Marx beobachtet nun, wie die Banken als neuer Player ins Spiel kommen und im nächsten Schritt das Kapital zur Ware machen: Man kann bei den Banken Kapital kaufen über Kredit. Mit dem so erworbenen neuen Kapital kaufen die, die es bekommen, in der Regel keine Yacht und kein Schloss, sondern sie kaufen schon vorhandene, meist kleinere oder bankrotte Unternehmen. Damit wächst das Kapital der kreditwürdigen Unternehmen sprunghaft. Marx nennt diesen Prozess „Zentralisation“. Es ist die zweite Stufe der Akkumulation.
Marx stellt nun fest, dass es die Banken sind, die entscheiden, welches Unternehmen Kredit bekommt und welches nicht. Die Banken steuern damit – als unabhängiger Akteur – die Konkurrenz. Die Unternehmen handeln nicht mehr frei.
Die Kontrolle der Banken über Unternehmen bei der Frage der Kreditvergabe bindet die Unternehmen und die Banken zusammen. Diesen Prozess nennt Marx „Assoziation“ – die dritte Stufe der Akkumulation.
Mit diesem Prozess entsteht eine ganz neue Art des Kapitalwachstums und der Reichtumsbildung. Vergesellschafteter Reichtum (das Geld der Anleger und Sparer) wird genutzt, um die Reichtumsvermehrung einzelner Unternehmen zu fördern.
Marx fragt sich nun: Wo geht diese Gesellschaft hin? Was ist die „historische Tendenz“ der Akkumulation? Seine Hoffnung: Dass die gebildete, assoziierte Arbeiterklasse, die komplizierte Arbeit leisten muss und zunehmend auch die Produktion steuert, die Unternehmen eigentlich übernehmen könnte. Wenn sie nur wollte. Notfalls könnte eine Revolution das bewerkstelligen, hoffte er.
Das vergesellschaftete Kapital kann dann der Gesellschaft zurückgegeben werden. Die Akkumulation sollte es möglich machen, dass die Enteigner selbst durch die Arbeiterklasse enteignet werden. „Das Kapital produziert seine Totengräber“, sagt Marx.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“