Kinostart von Chloé Zhaos „Nomadland“: Einsamkeit muss man ertragen lernen
Chloé Zhaos Film „Nomadland“ mit Frances McDormand in der Hauptrolle war der große Oscar-Gewinner des Jahres. Jetzt kommt er endlich ins Kino.
Eigentlich hätte man sie doch als die raren „Feste in Zeiten von Corona“ im Gedächtnis behalten müssen, die wenigen weltöffentlichen Ereignisse, die „trotz alledem“ stattfanden. In Wahrheit hat man sie längst vergessen, all die Online-, Digital- oder „Hybrid“-Festivals und Preisverleihungen.
Niemand erinnert sich an die diesjährige Oscarverleihung, oder? Es fiel daher kaum auf, dass es einen großen Gewinner dieser „Awards Season“ gab, einen Film, der überall Trophäen abräumte und dabei Rekorde markierte – Chloé Zhaos „Nomadland“.
Schon bei seiner Premiere auf dem Festival in Venedig im vergangenen Herbst erhielt er den Goldenen Löwen, kurz darauf den begehrten „People’s Choice Award“ in Toronto, und so ging es weiter, von Festival zu Festival, von Kritikerpreis zu Kritikerpreis, von nationalen Filmpreisen wie dem Bafta bis zu den Golden Globes und den Oscars. Immer wieder wurde „Nomadland“ zum besten Film, Chloé Zhao zur besten Regisseurin und/oder Frances McDormand als beste Hauptdarstellerin gewählt. Und überall wurde die Entscheidung mit größtem Konsens begrüßt.
Nun endlich, mit der bundesweiten Kinoöffnung am 1. Juli, können auch Zuschauer hierzulande nachvollziehen, welche geradezu bizarre Schönheit das hat, dass ein so beiläufiger, stiller Film wie „Nomadland“ eine solche Menge an glamourösen Auszeichnungen auf sich vereinen konnte.
„Nomadland“. Regie: Chloé Zhao. Mit Frances McDormand, David Strathairn u. a., USA 2020, 108 Min. Kinostart: 1. Juli
Fast wünscht man sich die Parallelwelt herbei, in der es die Bilder dazu gegeben hätte: Zhao und McDormand, zwei der seltenen weiblichen Dress-Code-Verweigerinnen, die sich weder in High Heels noch in „sexy“ Abendkleider zwängen lassen und sichtlich auch nicht gerne lange beim Friseur sitzen, flankiert von lauter Tuxedo- und Haute-Couture-Träger*innen, das wäre was gewesen.
Eine moderne Tagelöhnerin
Frances McDormand spielt in „Nomadland“ einmal mehr eine Frau ganz nach ihrem Format, soll heißen: uneitel, praktisch, unsentimental. Ihre Figur Fern ist eine verwitwete Frau, die ihr Haus aufgibt, um fortan in einem Van als eine Art moderne Tagelöhnerin durch die USA zu ziehen. Es ist weniger eine Wahl denn ein Mangel an anderen Mitteln und Möglichkeiten. An ihrem Wohnort, der Kleinstadt Empire im Staat Nevada, stellte Rigipsplattenhersteller US Gypsum im Jahr 2011 nach 88 Jahren die Produktion ein, konstatiert zu Filmbeginn eine Schrifttafel.
In den USA weiß man, was das bedeutet, wenn der zentrale Arbeitgeber eines Ortes zu existieren aufhört: nicht nur dass keine andere Arbeit zu finden ist, es verschwindet auch das im Hauseigentum angesparte Vermögen, weil Menschen wegziehen und keiner dazukommt, dem man das Haus noch verkaufen könnte. Weh dem, dessen Rente zu niedrig ist, um noch davon zu leben.
Fern also riecht noch einmal sehnsüchtig an einem hinterlassenen Kleidungsstück ihres Mannes, gibt die Sachen in „Storage“ und fährt los. Ihre erste Anlaufstelle ist ein Amazon-Lager, wo fürs Weihnachtsgeschäft Zusatzkräfte beschäftigt werden. Dass Fern beim Einchecken auf dem Trailer-Park in der Nähe auf ein eigenes Amazon-Territorium verwiesen wird, zeigt schon an, dass ihr Beispiel kein Einzelschicksal ist.
Eine bunte Truppe
Die bunte Truppe, die man in den folgenden Filmszenen bei ihrer Einweisung am Ort sieht, ist auf andere Weise „bunt“, als man es gewöhnt ist: viele Alte sind darunter, Menschen, denen man die Marginalisierung ansieht und die man sonst im Grunde ausschließt, wenn von „arbeitender Bevölkerung“ die Rede ist.
Hier formen sie eine provisorische Gemeinschaft, die in typisch amerikanischer Lässig-Höflichkeit neue Rituale ausbildet. Bald sieht man Fern zu allen Seiten hin grüßend zur Schicht laufen oder stillvergnügt im Waschsalon mit einer Kollegin zusammen Puzzle legen. Das neue Jahr aber begeht sie allein in ihrem Van, wobei der festlich-exzentrische Reif in ihrem Haar ihre Einsamkeit herausstreicht.
Spätestens da beginnt ein emotionaler Funken überzuspringen: Dieses Nomadenleben mag seine romantischen Seiten haben, mag trotz aller Armutsbegrenzungen auch befreiende Züge tragen, der Preis ist dennoch ein Grad von Vereinzelung, den zu ertragen man wohl lernen muss.
Der amerikanische Westen
Die Vorlage für „Nomadland“ ist keine Fiktion, sondern ein Reportagebuch der Autorin Jessica Bruder, die zum Phänomen der neuen, vorwiegend alten Tagelöhner in den USA recherchiert hat. In ihrer Verfilmung setzt Zhao auf die Beteiligung von Betroffenen – in vielen Szenen ist Frances McDormand der einzige „Profi“ vor der Kamera – und zugleich auf eine Kameraarbeit, die mit cineastischem Flair Landschaft und Umgebung aufnimmt.
In diesen Aufnahmen des amerikanischen Westens mit seiner einmaligen Kombination von Wüste, autofreien zweispurigen Straßen und Bergen (gedreht wurde vor allem in Süddakota, in Nebraska und Nevada) gelingt „Nomadland“ der Anschluss sowohl an den klassischen Western als auch das typische Roadmovie. Es ist diese Genre-Einbindung, die dem trockenen Stoff Atmosphäre einhaucht.
Wenn Fern von anderen „Nomaden“ belehrt wird, sei es über die „Zehn Gebote des heimlichen Parkens“, darüber, wie man „mit der eigenen Scheiße“ umgeht oder über den „Weg des Kapitals“, dem man gezwungen ist zu folgen – nie wird der Film pädagogisch oder predigerhaft. In eingestreuten „Testimonials“ gibt Zhao den echten Nomaden Gelegenheit, ihre Motivationen zu schildern, und zeigt so deren Vielfältigkeit auf, die ambivalent zwischen Freiwilligkeit und Not hin und her pendelt.
In der Putzkolonne
Die schönen Bilder beschönigen nicht, sie emotionalisieren: Fern, wie ihr Blick sich den kleinen Dingen zuwendet, dem bemerkenswert ausgehöhlten Kieselstein, der kleinen Muschel im Wüstensand, dem Teller, der ein einsames Erbstück des Vaters ist – obwohl man im Lauf des Films wenig über sie erfährt, fühlt man immer mehr mit dieser Frau mit. Zhao zeigt sie als Teil der verschiedensten Arbeitskollektive, in der Putzkolonne eines Nationalparks, in einem Fast-Food-Restaurant, als Straßenarbeiterin.
Fern findet leicht Anschluss, bleibt aber einsam. Ein Handlungsbogen deutet eine Romanze zwischen ihr und dem von David Strathairn gespielten Dave an, der sie schließlich einlädt, bei ihm und der Familie seines Sohns ihre Zelte aufzuschlagen. Die Szene, in der die Kamera Fern zeigt, wie sie im frühen Morgengrauen allein dort im Esszimmer sitzt und dabei die Fremdheit spürbar wird, die diese Frau im „Zuhause der Anderen“ empfindet, gehört zu denen, die man als Zuschauer nicht vergisst.
Dass sich 2020/21 ein willentlich auf Bescheidenheit zurückgezogenes Filmbusiness einen betontermaßen bescheidenen Film wie „Nomadland“ zum Hauptpreisträger aussuchte, kann kaum verwundern. Kurz vor der Oscarverleihung kam im Übrigen die Kontroverse auf, dass Zhao den Amazon-Konzern in allzu gutem Licht erscheinen lasse und nicht genügend die brutalen Praktiken des Internethandels ausstelle.
Film unserer Zeit
Es blieb der einzige Einspruch gegen den Film, bald überdeckt durch die identitätspolitischen „Vorzüge“, die auch für „Nomadland“ sprechen. Schließlich wurde mit Chloé Zhao endlich eine zweite Frau als Regisseurin bei den Oscars ausgezeichnet, die durch ihre chinesische Herkunft – sie ist in Peking geboren – zudem der Forderung nach mehr Diversity entgegenkommt. Aber letztlich wird es das im Film so treffend auf den Punkt gebrachte generelle Gefühl des „Sich-nicht-mehr-Zuhause-Fühlens“ sein, das „Nomadland“ als „den“ Film unserer Zeit ausweist.
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