Kinderärztin über Leistungsturnen: „Die Pubertät wird verzögert“
Verlorene Kindheit, Ess- und Zyklusstörungen können Folgen des Leistungsturnen sein, sagt Ärztin Edda Weimann. Erwachsenwerden sei nicht erwünscht.
taz: Frau Weimann, wenn Ihre Kinder den Wunsch geäußert hätten, Leistungsturner*innen werden zu wollen – hätte Sie das schockiert?
Edda Weimann: Nein, eigentlich müsste Leistungsturnen nicht schädlich sein, wenn man es in medizinisch sinnvollen Maßen betreibt. Die Empfehlung ist aber auch geschlechtsabhängig: Wenn mein Sohn das gesagt hätte, wäre das eher okay, weil es bei Jungs viel weniger negative Auswirkungen gibt als bei Mädchen. Die fangen später an. Bei Mädchen ist die aktive Zeit kurz und sie starten sehr viel jünger.
Warum ist das so?
Turnen gehört zu den ästhetischen, gewichtsassoziierten Sportarten. Es ist gut, wenn die Mädchen klein und leicht sind. Sie müssen zudem früh anfangen, um ihr Gehirn für die komplexen Bewegungsabläufe zu trainieren. Das ist wie mit dem Klavierspielen. Jungs dagegen turnen mehr kraftbetonte Bewegungen. Daher können die später anfangen zu trainieren, weil sie ihre Muskeln zusätzlich mit dem Testosteron in der Pubertät aufbauen können.
Wie sind die körperlichen Folgen für Mädchen, die vor und während der Pubertät auf Leistungsniveau turnen?
Der Titel des Artikels „Busen verboten“ der Journalistin Svenja Beller bringt es eigentlich auf den Punkt. Er beschreibt die sogenannte Athletinnen-Trias, also die Wechselwirkungen zwischen hoher körperlicher Belastung, unterkalorischer Ernährung und Zyklusstörungen: Die Pubertät wird durch die hohen Belastungen verzögert, regelrecht unterdrückt. Die Mädchen haben dadurch eine sehr niedrige Fettmasse. Sie brauchen aber eine gewisse Fettmasse, damit eine normale Pubertätsentwicklung ausgelöst wird. Ich habe auch das Knochenalter von Turnerinnen untersucht und kann bei einigen Turnerinnen Entwicklungsverzögerungen von zwei Jahren und mehr sehen. Essstörungen, Kleinwuchs oder Zyklusstörungen können damit assoziiert sein.
Und das ist den Verantwortlichen bekannt?
Das ist den Trainern schon lange bekannt, leider manipulieren sie dabei mit. Weil sie genau wissen: Wenn die Mädchen in diesem präpubertären Stadium bleiben, sind sie erfolgreicher. Je weniger Fett, desto leichter die Abläufe und desto besser die Sprungaktivität. Eine aktuelle Berichterstattung vom Spiegel zeigt, dass die Mädchen teilweise von ihren Trainern gesagt kriegen: „Du bist zu schwer“ oder „Kein Wunder, dass du die Übung nicht kannst“. Diese Manipulation hat vor 20 Jahren stattgefunden und findet jetzt immer noch statt.
Sie hatten während ihrer Laufbahn selbst Einblicke in Spitzenkader. Welchen Eindruck haben sie mitgenommen?
Es ist schon – sagen wir es positiv – sehr diszipliniert. Das Trainingsregime ist streng. Die Mädchen werden regelmäßig gewogen und wissen über ihr Gewicht genau Bescheid.
56, Kinder- und Jugendärztin, hat als Oberärztin an der Uniklinik Frankfurt die Kaderturner*innen des dortigen Olympiastützpunktes untersucht. Heute ist sie medizinische Direktorin der Rehaklinik für Kinder und Jugendliche im bayerischen Gaißach.
Haben Sie mal miterlebt, dass verletzten oder kranken Sportler*innen ihre Beeinträchtigung abgesprochen wurde?
Es gibt eine gewisse Wertigkeit, abhängig davon, wie wichtig der nächste Wettkampf ist. Ich will nicht sagen, dass eine Vernachlässigung stattfindet, aber Verletzungen gehören im Leistungssport irgendwie dazu. Es wird meist mit irgendwelchen Verletzungen trainiert. Und wenn die Mädchen tatsächlich längere Zeit aussetzen und nicht mehr in diesem Trainingsregime sind, nehmen sie an Gewicht zu. Und das ist ja genau das, was man nicht möchte. Deswegen kann man Turnerinnen über das Training in einem körperlichen Stresszustand halten.
Ist ein gebrochener Zeh ausreichend, einen Wettkampf ausfallen zu lassen?
Glaube ich nicht.
Wird dann mit Schmerzmitteln hantiert, damit es geht?
Ja, sicher.
Kommen aktuell regelmäßig Leistungsturner*innen zu Ihnen?
Immer wieder. Aber wenn die so richtig auf höchster Ebene im System drin sind, haben die gar nicht mehr so viel Kontakt nach außen. Sie werden dann im Kader betreut, aber meist nur von Orthopäden und nicht von Kinder- und Jugendärzten. Nichts gegen Orthopäden – aber sie sind auf Knochen und den Bewegungsapparat spezialisiert.
Ist Turnen auch schädlich für die Gelenke und Knochen?
Turnen hat nicht das höchste, aber dennoch ein mittleres Verletzungspotenzial. Aber gerade in der Wachstumsphase muss die Belastung eigentlich runtergehen. Und das machen die Trainer häufig nicht. Dann kommt es auch zu Spontanfrakturen oder Brüchen in der Nähe von Wachstumsfugen, die schlecht verheilen.
Wird da nicht eine körperliche Grenze überschritten?
Man muss sich heute überhaupt im Sport fragen, wo Grenzen sind. Wir regen uns über Doping auf, aber eigentlich ist es doch die Gesellschaft, die immer wieder neue Rekorde verlangt. Das ist völlig irrational: Es gibt den menschlichen Körper – und daneben das riesige Geschäft Olympia und Co.
Was macht das Trainingsregime mit der Psyche der Sportlerinnen?
Die emotionalen Folgen sind eine verpasste Kindheit. Die Mädchen fangen teilweise mit vier, fünf Jahren an, intensiv zu trainieren. Von der Schule geht es zum Training, am Wochenende sind Wettkämpfe. Sozialkontakte können sie nicht ausleben. Psychische Störungen, auch Burn-out, können die Folgen sein.
Waren Turnerinnen immer so jung?
Schauen Sie sich doch Aufnahmen von früher an, zum Beispiel von Nadia Comaneci, die bei den Olympischen Spielen 1976 mit 14 Jahren drei Goldmedaillen gewann und die bis dato jüngste Turnerin war. Die war zu der Zeit ja noch vollständig vorpubertär: nur Muskelgewebe, kein Fettgewebe, keine ansatzweise Brustentwicklung. Mit ihrem Erfolg hat sie eine neue Ära des Mädchenturnens eingeleitet.
Wenn das alles bekannt ist – wird dagegen etwas getan?
Ich habe darüber viel mit Trainern diskutiert. Die sagen dann immer, man müsse was ändern, aber das Ausland macht es ja auch so. Das stimmt auch, teilweise geht es den Mädchen anderswo sogar noch schlechter. Aber das ist ja kein Grund, es genauso zu machen!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“