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Kinder- und Jugendbücher zum VerschenkenIm Labyrinth starker Gefühle

Neue Perspektiven in schwierigen Momenten. Sydney Smith, Christopher Paul Curtis und Eva Rottmann erzählen von Abschied, Hass und dem ersten Mal.

„Erinnerst du dich?“ von Sydney Smith erzählt von einem Neuanfang, den ein Junge und seine Mutter erleben Illustration: Sydney Smith, Aladin Verlag

Die Illustrationen von Sydney Smith berühren. Sie entstehen mit dem Pinsel, arbeiten mit Unschärfen, skizzenhaften Andeutungen und durchlässigen Konturen. In „Erinnerst du dich?“ schafft der kanadische Autor eine visuelle Erzählung, die mit wenig Text eine komplexe Situationen einfühlsam Kindern zu beschreiben vermag.

Das Bilderbuch handelt von Abschied und Neuanfang. Gemeinsam erleben ein Junge und seine Mutter diesen herausfordernden Moment in einer ihnen noch fremden städtischen Umgebung. Auf großzügig komponierten Doppelseiten begegnet man den Figuren aus nächster Nähe. Die Köpfe dicht beieinander auf den Kissen liegend, scheinen ihre großen Augen ferne Punkte in der Dämmerung zu fixieren.

Sydney Smith

„Erinnerst du dich?“ Aus dem Englischen von Bernadette Ott. Aladin Verlag, Stuttgart 2024. 40 Seiten, 18 Euro. Ab 4 Jahren

Dieser nachdenkliche kleine Junge hat große Ähnlichkeit mit dem stotternden Protagonisten in dem Bilderbuch „Ich bin wie der Fluß“, das Smith zuvor gemeinsam mit dem Dichter Jordan Scott veröffentlichte und das 2022 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde.

„Erinnerst du dich“ – mit dieser spielerischen Frage rufen Mutter und Sohn abwechselnd vertraute Bilder der Vergangenheit auf. Von einem sommerlichen Picknick mit dem Vater. Vom ersten Fahrrad, dem anschließenden Sturz und der weichen Landung im Heuhaufen. Von einem Unwetter mit Stromausfall bei ihnen zu Hause auf dem Land und den Geruch der Öllampe. Aber auch von ihrem Auszug und der chaotischen Reise. „Autos haben gehupt und sind an uns vorbei gerauscht. Wir waren so durcheinander.“

Der Autor und Illustrator kombiniert diese heiteren und bedrückenden Erinnerungssplitter mit knappen, farblich abgesetzten Dialogen und kleineren Bildausschnitten, die wie Schnappschüsse aus einem Fotoalbum wirken. Daraus setzt sich ihre Geschichte in Rückblicken langsam zusammen ohne dabei auserzählt zu werden. Mit eindrucksvoll atmosphärischen Bildern lenkt Sydney Smith stattdessen die Aufmerksamkeit auf die Gefühle und Gedanken des Jungen, der sich mutig bereit macht für ein neues Kapitel in seinem Leben.

„Erinnerst du dich?“ Illustration: Sydney Smith, Aladin Verlag

Ein Bestseller aus der Bürgerrechtsbewegung

Christopher Paul Curtis, 1951 in Flint, Michigan, geboren, arbeitete jahrelang am Fließband in der Automobilindustrie, bevor er 1995 sein literarisches Debüt „Die Watsons fahren nach Birmingham – 1963“ veröffentlichte. Die Erzählung über eine afroamerikanische Familie aus Flint in Zeiten der Bürgerrechts­bewegung wurde in den USA zum Besteller. Nun liegt eine kommentierte deutsche Neuausgabe dieses bemerkenswerten Klassikers vor.

Kenny, geht in die zweite Klasse der Clark Elementary School. Der Ich-Erzähler des Romans schielt und das Lernen fällt ihm leicht, weshalb er oft genug von seinen Mitschülern verspottet und drangsaliert wird. Ganz anders Byron, sein älterer Bruder. Der musste die fünfte Klasse bereits wiederholen, aber auf dem Schulhof genießt er uneingeschränkten Respekt.

Christopher Paul Curtis

„Die Watsons fahren nach Birmingham – 1963“. Aus dem Englischen von Gabriele Haefs. dtv (Reihe Hanser), München 2024. 240 Seiten, 16 Euro. Ab 10 Jahren

Zusammen mit der kleinen Schwester Joetta und den Eltern leben sie im „Kühlschrank“ der USA. Das behauptet zumindest ihre Mutter, die aus Birmingham, Alabama, stammt und sich an die eisigen Temperaturen Michigans kaum gewöhnen kann. Doch ist ein Leben in den Südstaaten für Vater Daniel Watson 1963 keine Option. Scherzhaft unterbricht er die Birmingham-Schwärmereien seiner Frau – „wo war doch noch gleich diese Toilette ‚Nur für Farbige‘ in der Stadt?“.

Auch Kenneth ahnt, dass es nicht überall wie in Flint zu sein scheint, als Rufus aus Arkansas in löchrigen Klamotten und ohne Pausenbrot neu in seine Klasse kommt. Die beiden Außenseiter freunden sich an.

Schulschwänzen und Humor

Aus der Perspektive des Grundschülers und mit viel Humor erzählt der US-amerikanische Autor vom Alltag der aufgeweckten Familie und ihren Konflikten mit dem älteren Bruder. Denn nicht nur Kenny leidet unter Byrons Tyrannei, auch den Eltern bereiten die Abwege des Jungen und sein Schulschwänzen immer größere Sorgen.

Deshalb beschließen die Watsons, den Dreizehnjährigen einige Zeit der Großmutter in Alabama zu übergeben. Allerdings muss so eine Reise Richtung Süden gut vorbereitet sein. Wo können sie unterwegs ohne Risiko tanken, rasten oder übernachten?

Auch im Norden der USA erlebten schwarze Familien wie die Watsons in den 1960er Jahren im Alltag Diskriminierung und Rassismus. Doch in den Bundesstaaten des Südens waren sie ihres Lebens nicht sicher, wurden von Gehsteigen verdrängt oder in Bussen in die letzte Reihe verbannt. Lynchmorde wurden begangen und sie wurden nicht geahndet.

So treffen die Geschwister Kenny, Byron und Joetta im heißen Birmingham auf eine völlig andere Welt. Sie lernen endlich ihre etwas unheimliche Grandma kennen. Und sie lauschen fasziniert Mr. Roberts Geschichten von Waschbären und Wasserpudeln, bis eines Sonntags eine Bombe in der Kirche des Viertels explodiert.

Christopher Paul Curtis widmete seinen Roman Addie, Denise, Carole und Cynthia, jenen vier Mädchen, die am 15. September 1963 bei einem rassistischen Anschlag auf eine Baptistenkirche in der Sixteenth Street von Birmingham ums Leben kamen. Doch gelingt es dem Autor der „Watsons“, der Angst und dem Schrecken etwas entgegenzusetzen, das Kate DiCamillo in ihrem Nachwort treffend beschreibt: „Auf leise, zurückhaltende Weise versichert uns das Buch, dass es auf der Welt mehr Liebe gibt als Hass, mehr Licht als Dunkelheit – dass es mehr Sterne gibt als leere Stelle.“

Verliebtsein und erster Sex

Eva Rottmann hat kein Aufklärungsbuch und auch keinen Ratgeber geschrieben. In zehn bewegenden Kurzgeschichten erzählt die Autorin in „Fucking, fucking schön“ von einer Gruppe von Jugendlichen und ihren ersten Erlebnissen mit Sex und Verliebtsein. Dabei treffen wir auf Alex, Teddy, Ari, Lou oder Yasin – Prot­ago­nis­t*In­nen aus Rottmanns Skater-Roman „Kurz vor dem Rand“, für den sie 2024 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt.

Die zahlreichen Episoden handeln von intensiven, manchmal ziemlich komplizierten Momenten. Von Erwartungen und Enttäuschungen, die mit Vorstellungen von Sex verbunden sind. „Aber wir müssen das einfach ausprobieren. Wir haben ja grad erst damit angefangen, ist doch klar, dass wir noch nicht wissen, wie es geht,“ beruhigt Mats ihren Freund Milad nach dem ersten Mal. In zugänglicher Sprache unaufdringlich erzählt, ermutigt „Fucking, fucking schön“ dazu, weniger daran zu denken, was erwartet wird oder wie man wirkt.

Eva Rottmann

„Fucking fucking schön“. Jacoby & Stuart, Berlin 2024. 176 Seiten, 16 Euro. Ab 14 Jahren

Als Tini, die von den Freundinnen für ihre Unerfahrenheit belächelt wird, in einem Sexshop mit hochrotem Kopf einen Vibrator ersteht, rät ihr die Verkäuferin lebenserfahren: „Das Wichtigste bist du selbst, Mädchen. Versuch rauszufinden, was dir gefällt.“

Für den Vorsatz des Romans hat Rottmanns Schwester Leo eine wild verzweigte Übersichtsmap gezeichnet. Alle Personen aus diesem Buch und ihre Beziehung zueinander sind darauf mit Pfeilen, Herzen und Kommentierungen zum Nachschlagen festgehalten. Denn im Verlauf der zehn kurzen Geschichten begegnen wir den einzelnen Figuren immer wieder und lernen sie aus vielfältigen Perspektiven kennen – so auch Fabian, der an der Schule den Ruf eines viel umschwärmten Players hat oder Melek, Mats selbstbewußte Punk-Freundin.

Das ist ein wirkungsvoller Kunstgriff. Zeigt er doch auch, Sex ist nichts für Angeber.

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