Leipzig und die Tradition der Kunst: Bilderkosmos statt Bilderstreit

Das Leipziger Museum der bildenden Künste präsentiert den eigenen Bestand der letzten 120 Jahre. Und lädt die Stadtgesellschaft zur Diskussion ein.

Gemälde einer älteren Frau in Kittelschürze, links ihre Berufstätigkeit als Sekretärin, rechts die Schatten der Vergangenheit

Erster Rentnertag, 1976/77, Ulrich Hachulla, MdbK Leipzig, Dauerleihgabe des Kunstfonds, Staatl. Kunstsammlungen Dresden Foto: Foto:M. Ehritt/InGestalt

Eine junge Frau steht vor den Stufen im Leipziger Hauptbahnhof, in der Handtasche einen Regenschirm und die NBI, die Neue Berliner Illus­trierte. „Die Iranerin M. M.“ ist eines der vielen Bilder in der Ausstellung „Bilderkosmos Leipzig. 1905–2022“ im Museum der bildenden Künste (MdbK), über das man mehr erfahren möchte. 1972 war es auf der 8. Kunstausstellung des Bezirks Leipzig zu sehen und kam zwei Jahre später ins Museum.

Wer sich hinter den Initialen „M. M.“ verbirgt, steht nicht in der Bildakte. Geschaffen hatte es die 2017 verstorbene Malerin Inge Wunderlich. Sie studierte in den 1960er Jahren an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, an der Bernhard Heisig gerade eine Klasse für Malerei eingerichtet hatte.

Bis heute liegt der Fokus der Sammlung des MdbK auf Kunst aus Leipzig. Allein ein Viertel aller 4.000 Gemälde entstand in der DDR. Sonderausstellungen haben sich der Kunst dieser Zeit immer wieder gewidmet. So 2019 „Point of No return“ zu Wende und Umbruch.

Doch während etwa das Kunstmuseum Moritzburg in Halle der Kunst in der SBZ und DDR seit 2017 in der Sammlungspräsentation einen großen Bereich widmet, schienen diese Phasen in der Leipziger Dauerausstellung bisher unterrepräsentiert. Und das, obwohl Leip­zi­ge­r:in­nen wie auswärtiges Publikum seit der Eröffnung des Neubaus 2004 immer wieder danach gefragt hatten.

Die Kunst der DDR

„Bilderkosmos Leipzig. 1905 bis 2022“. Im Museum der bildenden Künste Leipzig. Bis 6. Juni 2022.

https://mdbk.de

Direktor Stefan Weppelmann betonte nun zu seinem Amtsbeginn vor einem Jahr, dass das Haus eine enorme Verantwortung für die Kunst und Kultur der DDR habe. Und dass viele Künst­le­r:in­nen noch nicht ausreichend gewürdigt und bekannt seien.

Aus dem Team kam nun der Impuls, in den 15 Räumen der obersten Etage Malerei und Plastik des 20. und 21. Jahrhunderts zu zeigen. Mehr als 200 Werke aus dem eigenen Bestand, darunter Bilder, die noch nie ausgestellt waren, was auch teilweise an der Qualität der Rahmen abzulesen ist. Kurator Marcus Andrew Hurttig betont, hier keinen Ost-West-Dialog zu inszenieren.

Die Qualität an Kunst aus dem Westen wäre im Haus gar nicht wirklich vorhanden. Nach Leipzig fahre man nicht, um Andy Warhol oder Anselm Kiefer zu sehen, sondern Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Neo Rauch und Co.

In Leipzig sind Besuchende jetzt von Anfang an eingeladen, sich mitzuteilen

In den vergangenen Monaten hat Hurttig viel Zeit im Depot und mit der Datenbank verbracht, um mit der Kunstvermittlung den Leipziger Bilderkosmos zusammenzustellen. Die Ankaufsgeschichte beschreibt diese Ausstellung nun, die beginnend mit Werken des 1884 in Leipzig geborenen Max Beckmann überwiegend chronologisch, mitunter aber auch thematisch sortiert ist. Im Blickpunkt stehen die Bilder, wenige Sätze ordnen sie grob ein, auf Werkerklärungen wurde verzichtet. Der Bestand in Leipzig ist bisher nicht systematisch erforscht, es gibt teilweise wenig Kenntnisse zur Geschichte der Werke, Forschungslücken, die das Haus gern schließen will.

Junge Frau mit schwarzen Haaren und schwarzem Schal

Die Iranerin M. M., vor 1974, Inge Wunderlich, MdbK Leipzig Foto: Foto:M. Ehritt/InGestalt

Emotionales Thema

Wie emotional Menschen auf Kunst aus der DDR reagieren können, zeigte zuletzt der Dresdner „Bilderstreit“. In ihm ging es um so viel mehr als die nackte Präsenz von Kunst aus der DDR im dortigen Albertinum. Viele produktive Gespräche zu den in der Präsentation vermissten Werken waren in Dresden die Folge. In Leipzig sind Besuchende jetzt von Anfang an eingeladen, sich mitzuteilen. „Das erinnert mich an“, „Das fehlt mir hier“ – wer will, kann mit solchen Fragekarten durch die Räume gehen, seine Perspektive und Kritik mitteilen.

Das Feedback soll gesammelt und ausgewertet werden. Der damit jetzt zur Diskussion stehende Bilderkosmos soll langfristig Teil einer Dauerausstellung werden, in die die Reaktionen einfließen.

Vier Räume zum Alltag in der DDR bilden das jetzige Kernstück der Präsentation. Eindrücklich darunter die Bilder der Reinigungskraft „Frida G.“ (1977) von Monika Geilsdorf oder Ulrich Hachullas „Erster Rentnertag“ (1976/77), die die zeitlose Frage der Identifikation mit der eigenen Arbeit thematisieren. Ein anderer Raum widmet sich versteckten Freiheitsallegorien.

Neben dem berühmten „Hinter den Sieben Bergen“ (1973) von Mattheuer – es ist als Tast- und Hörbild auch barrierefrei zugänglich – hängen traurig schauende „Spielende Kinder“ (1981) von Gudrun Pontius – der Vater abgewandt, womöglich schon geflüchtet in den Westen. Stadtansichten, die Leipzig zwischen Industriearchitektur, Plattenbau und Kriegszerstörung zeigen, scheinen neben „Jugend“ ein weiterer Sammlungsschwerpunkt. „Vielleicht muss man das in Analogie sehen,“ so Kurator Hurttig, „ein junger Staat zeigt junge Menschen und den Fortschritt.“

Weibliche Positionen

Nicht die Heisigs, Mattheuers und Tübkes, deren Arbeiten selbstverständlich auch zu sehen sind, stehen als geschlossene Werkblöcke im Zentrum. Auch andere, vor allem weibliche Positionen, gehören zum Leipziger Bilderkosmos. Im Vergleich zu anderen Zeitabschnitten sind zwischen 1970 und 1980 überdurchschnittlich viele Gemälde von Künstlerinnen erworben worden.

Den expressiven 1980er Jahren mit Angela Hampel und Hartwig Ebersbach folgen fünf Räume zu Neo Rauch und seinen Zeitgenoss:innen. Ein Werk der Malerin Anna Nero von 2021 wurde noch kurz vor Eröffnung angekauft. Nahezu malerisch wirken Fotografien von Ricarda Roggan, deren Einzelausstellung in den Bilderkosmos übergeht – auch sie ist Absolventin der Leipziger Hochschule.

Noch viel mehr Werke – und die auch aus konservatorischen Gründen ausgesparte Fotografie – hätten den Weg ins Obergeschoss finden können. Für sieben Gemälde, die 1976 auf der documenta in Kassel hingen, war einfach kein Platz mehr. „Wir werden viele Künstlerinnen und Künstler traurig machen, weil sie nicht vertreten sind oder lieber ein aktuelles Bild gezeigt hätten“, sagt Kurator Hurttig. „Institution bedeutet auch immer Verdrängung.“

iPads ermöglichen zumindest den virtuellen Blick ins Depot, 100 weitere Bilder können hier gelikt werden. Es soll auch Führungen mit Künst­le­r:in­nen geben, ebenso auf Impulse von Kritikern und aus der Stadtgesellschaft reagiert werden. Viele der Künst­le­r:in­nen leben in Leipzig. Noch ist es möglich, ihre Erzählungen zu archivieren. Der ausstellungsbegleitende Podcast ist ein guter Anfang.

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