Katie Kitamuras Roman „Intimitäten“: Zu viel Verständnis
Katie Kitamura schreibt in „Intimitäten“ über eine Dolmetscherin, die das Übersetzen in eine bittere Nähe zu einem diktatorischen Schlächter bringt.
Die Intimitäten, die Katie Kitamura in ihrem gleichnamigen Roman verhandelt, sind unterschiedlicher Art. Genossen, erlitten und reflektiert werden sie von ihrer Ich-Erzählerin, die aus New York nach Den Haag gezogen ist, um dort eine befristete Stelle als Dolmetscherin am Internationalen Gerichtshof anzunehmen. Wurzellos, heimatlos fühlt sie sich und ist damit nicht allein in dieser Stadt, an diesem sehr speziellen Arbeitsplatz.
Schon bald dolmetscht sie in einem wichtigen Prozess gegen den Ex-Präsidenten eines westafrikanischen Landes, dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden. Parallel dazu entwickelt sich im Privaten eine Beziehung zu Adriaan. Die intensive Nähe erweist sich ab dem Moment als fragil, als er zu seiner Noch-Ehefrau reist und anders als verabredet nicht nach einer Woche zurückkehrt und die in seiner Wohnung wartende Erzählerin ohne Nachricht lässt.
Aus dieser Konstellation heraus erschafft die US-amerikanische Autorin, Tochter japanischer Immigranten, eine dichte Erzählung über den Wunsch nach Sicherheit und Gewissheit, dem sie eine allgegenwärtige Gewalt und das Entgleiten von Eindeutigkeiten gegenüberstellt. Auf sublime Weise verknüpft sie das vermeintlich Private mit politischen Fragen.
Ein Präsident ist angeklagt
Zentral ist die Bedeutung von Sprache und welche Rolle sie beim Dolmetschen spielt: „Ich würde die Bedeutung dessen, was er getan hatte, nicht verschleiern […], es war meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich zwischen den Sprachen kein Fluchtweg auftat.“ Er, das ist der angeklagte Präsident.
Katie Kitamura: „Intimitäten“. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Hanser, München 2022, 224 Seiten, 24 Euro
Eindrücklich schildert Kitamura durch den Blick ihrer Figur, wie jede Betonung, jede Unsicherheit in der Stimme der Dolmetscher*innen die Glaubwürdigkeit der Zeug*innen stärken oder schwächen, den Prozessverlauf beeinflussen kann. Und wie kann Sprache die unfassbare Gewalt überhaupt ausdrücken? Wie kann die Erzählerin „ich“ im Namen eines Opfers sagen?
Sie möchte neutral sein, doch das „reine“ Übersetzen wird auch durch das manipulative Charisma des Angeklagten torpediert. Für die Erzählerin führt sein Verhalten zusammen mit dem Akt des Dolmetschens zu einer unerträglichen Nähe, einer aufgezwungenen Intimität.
Grenzen der Empathie
Ihre Fähigkeit zur Empathie konfrontiert sie hier mit einer zutiefst beunruhigenden Erfahrung, denn sie fühlt sich, „als wäre ich in einen Körper verpflanzt worden, in dem ich nicht sein wollte. Zu erleben, dass ich so durchlässig war, widerte mich regelrecht an.“ So sehr nimmt sie zeitweise die Perspektive des Angeklagten ein, spürt gar Erleichterung, wenn es für ihn gut läuft. Was konträr zu ihrer moralischen Wertung steht. So umkreist Kitamura die Grenzen der Empathie, weist auf ihre invasiven, verunsichernden Momente hin.
Eine Spiegelung findet das Thema in der Beziehung zu Adriaan. Zu viel Verständnis hat die Erzählerin in eine demütigende Lage gebracht. Um eine Art Machtbalance geht es auch in dieser Beziehung – und die Verlagerung zuungunsten der Frau, das weiß auch die Erzählerin, ist alles andere als individuell. Die Autorin wird die Geschichte hier aber nochmals drehen.
Kitamuras Sprache ist sehr klar. Eine dichte Erzählstimme, die von der erstaunlichen Spannung zwischen fast kühler Präzision und Feinfühligkeit getragen ist, führt durch den Roman.
Konfrontation mit brutaler Gewalt
Und so erzählt die Autorin auch davon, was die ständige Konfrontation mit brutaler Gewalt, dem Leid der Opfer den Mitarbeiter*innen am Internationalen Gerichtshof abverlangt. Die Erzählerin, eine so genaue Beobachterin ihrer Mitmenschen wie ihrer selbst, wird daraus ihre Schlüsse ziehen, seien sie auch ohne Gewähr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!