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Katastrophen in Libyen und MarokkoDiplomatie kann Leben retten

Jannis Hagmann
Kommentar von Jannis Hagmann

Autoritäre Staaten bringen ihre Ein­woh­ne­r*in­nen in Gefahr. Noch gefährlicher aber sind gescheiterte Staaten wie Libyen.

Autowracks auf einer Straße in Derna Foto: Esam Omran Al-Fetori/reuters

T ausende, vielleicht sogar 20.000 Tote durch Überschwemmungen in Libyen: Das Land war dem Sturmtief „Daniel“ nicht gewachsen, das aus Südosteuropa über das Mittelmeer nach Nordafrika zog. Wirklich überraschend kommt die Ka­tas­tro­phe allerdings nicht, deren Ausmaß auch eine Woche nach Beginn der Regenfälle in Libyen noch unklar ist. Wenn schon intakte Staaten wie Griechenland oder die Türkei mit dem Extremwetterereignis zu kämpfen hatten, wie hätte ein failed state wie Libyen darauf vorbereitet sein können?

Dass es einen Zusammenhang zwischen der Katastrophe und der Klimakrise gibt, ist nicht von der Hand zu weisen. Die wesentliche Ursache für den Starkregen sehen Ex­per­t*in­nen in zu warmen Mittelmeertemperaturen. Richtig ist auch, dass wir uns als Gesellschaften anpassen müssen, um die Folgen des Klimawandels abzufedern, ­Stichwort Klimaresilienz. Doch in Libyen traf ein Extremwetter­ereignis auch noch auf einen Staat, der diese Bezeichnung kaum noch verdient.

Dies ist der zentrale Unterschied zum zweiten nordafrikanischen Katastrophenstaat der letzten Woche. Marokko wird zwar autoritär regiert, der Staat aber funktioniert, ist handlungsfähig. Anders als in Marokko, wo das Erdbeben ohne jegliche Vorwarnung die Häuser in sich zusammenfallen ließ, war in Libyen bereits Tage vorher abzusehen, dass das Sturmtief die Küstenstädte heimsuchen würde.

Doch es passierte kaum etwas. Warnungen gab es, nicht aber Evakuierungen, Schutzwälle wurden nicht gebaut, die Dämme vor der Küstenstadt Darna nicht gesichert, deren Bruch die Katastrophe perfekt machte. Klassisches Staatsversagen.

Wartungen wurde keine Beachtung geschenkt

Hochwasserschutz? Das klang bis vor Kurzem geradezu lächerlich vor dem Hintergrund all der anderen Missstände in Libyen. Grob gesagt wird das Land von zwei Macht­zen­tren regiert. Genau genommen aber haben etliche miteinander konkurrierende Milizen den Staat unterwandert und nutzen seine Institutionen, um an Gelder zu gelangen. Korrupte Politiker stecken sich Staatsgelder in die Taschen, und skrupellose Menschenhändler treiben ihr Unwesen im Verbund mit den Milizen und deren Vertretern in der Politik.

Je korrupter die Führung, desto größer ist die Gefahr, die von Starkregen und anderen Naturereignissen ausgeht

Was in Darna passierte, ist ein Klassiker, nicht nur in Libyen: Wasser sammelt sich in der Wüste, sucht sich durch Wadis den Weg ins Meer. An der Küste sind – teilweise in wenigen Jahrzehnten – Großstädte entstanden, in denen Themen wie der Wartung von Regenwasserkanälen, dem Bau von Fluttoren oder wasserdurchlässigem Straßenpflaster keine Beachtung geschenkt wurde.

2009 war in der saudi-arabischen Küstenstadt Dschidda etwas Ähnliches passiert, auch wenn sich die Wassermengen von damals kaum vergleichen lassen mit denen, die nun in Libyen vom Himmel kamen. Doch auch in Dschidda suchte sich das Wasser den Weg aus der Wüste ins Meer und verwüstete die Stadt.

Im Nachhinein stellte sich heraus: Die Katastrophe war komplett menschengemacht. Unter anderem war ein Bauunternehmer beauftragt worden, ein unterirdisches Regenwassersystem zu bauen. Seine Firma kassierte die staatlichen Gelder und baute auch einige Gullys, sparte sich aber die Rohre unter der Stadt. Die Behörden wollten das nicht bemerkt haben. Klassische Korruption.

Libyen nicht als verloren akzeptieren

Je korrupter die Führung, desto größer ist die Gefahr, die von Stark­regen, Wirbelstürmen, Erdbeben und anderen Naturereignissen ausgeht. Autoritäre Staaten mit ihrer meist korrupten politischen Klasse bringen ihre Ein­woh­ne­r*in­nen in Gefahr.

Noch gefährlicher aber sind gescheiterte Staaten wie Libyen, wo zusätzlich Zuständigkeiten oft ungeklärt sind, wo es nach einer Katastrophe kaum möglich ist, Verantwortliche auszumachen und Schuldige zur Rechenschaft zu ziehen. Libyens Regierung in der Hauptstadt Tripolis will die Flutkatastrophe nun vollständig untersuchen lassen; im Überschwemmungsgebiet im Osten des Landes hat sie aber gar nichts zu sagen, dort herrscht eine Gegenregierung.

Libyen als verloren zu akzeptieren, ist jedoch nicht die Lösung – auch deshalb nicht, weil es die Nato war, die 2011 mit Luftangriffen den Sturz von Diktator Gaddafi ermöglichte und mit dazu beitrug, dass das staatliche Machtmonopol zertrümmert wurde.

Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren in der Libyenkrise mit dem sogenannten Berliner Prozess diplomatisch engagiert. Das war richtig, auch wenn der Prozess 2021 scheiterte, als die geplanten Wahlen nicht stattfinden konnten. Europa muss sich weiterhin engagieren. Den Gewaltakteuren in Libyen und ihren internationalen Unterstützern gilt es zumindest Zugeständnisse abzuringen. Es gilt dafür zu sorgen, dass sie die Bevölkerung nicht gänzlich der Natur ausliefern.

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Jannis Hagmann
Redakteur Nahost
ist Redakteur für Nahost & Nordafrika (MENA). Davor: Online-CVD bei taz.de, Volontariat bei der taz und an der Evangelischen Journalistenschule Berlin, Studium der Islam- und Politikwissenschaft in Berlin und Jidda (Saudi-Arabien), Arabisch in Kairo und Damaskus. Er twittert unter twitter.com/jannishagmann
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9 Kommentare

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  • „Libyen als verloren zu akzeptieren, ist jedoch nicht die Lösung – auch deshalb nicht, weil es die Nato war, die 2011 mit Luftangriffen den Sturz von Diktator Gaddafi ermöglichte und mit dazu beitrug, dass das staatliche Machtmonopol zertrümmert wurde.“

    Natürlich ist das keine Lösung; es ist aber keine Lösung, weil die Akzeptanz eines gescheiterten Staates an sich schon nicht die Bezeichnung „Lösung“ verdient. Es ist völlig unabhängig davon, ob und durch wen es Luftangriffe gab.

    Auch erscheint mir die Kausalität verdreht. Als die Luftangriffe begannen, herrschte schon seit 4 Wochen Bürgerkrieg, weite Teile des Landes waren unter Kontrolle von Rebellengruppierungen. Kann man unter solchen Umständen noch von einem bestehenden staatlichen Machtmonopol sprechen?



    Meiner Meinung nach nicht. Es hätte allenfalls das staatliche Machtmonopol wiederhergestellt werden können: entweder







    1. stellt sie das Gaddafi-Regime wieder her, indem es die Rebellen niederringt, oder

    2. stellen die Rebellen es wieder her, indem sie das Regime stürzen, die Institutionen des Staates übernehmen und ein neues Machtmonopol etablieren

    Die Intervention hat lediglich verhindert, dass es zu Szenario 1 kommt. Szenario 2 hat sie aber nicht verhindert. Für dessen Erfolg hätten die Rebellengruppierungen sich untereinander einigen und Kompromisse eingehen müssen, und das haben sie nicht geschafft. Mit welcher Begründung kann man also behaupten, dass die Intervenierenden dafür verantwortlich sind, dass es nicht dazu kam?

  • Die Folgen der beiden Katastrophen sind verheerend.



    Es erscheint mir allerdings ein Trugschluss, dass wir in der Lage sind, den Auswirkungen der Klimakrise vorbeugend zu begegnen.



    Auch wenn die Flut an der Ahr sich in den schlimmen Konsequenzen kleiner ausnimmt, als die Katastrophen in Lybien und Marocco, sollte man/frau auch diesen Vergleich ziehen.



    Wir sind eine Demokratie, der Staat hat Geld, es gibt funktionierende Abwassersysteme.



    Dennoch gibt es Ereignisse, die nicht einzudämmen sind.



    Das Kanalsystem wird für 100 jährige Regenereignisse gebaut. Auch wenn die Berechnungen etwas angepasst wurden, hatten wir hier in den vergangenen 10 Jahren 3 Hundertjährige Starkregenereignisse.



    Natürlich "schlug " die Natur nicht immer am gleichen Ort zu.



    Es ist natürlich sinnvoll, zu versuchen, derartigen Problemen vorzubeugen.



    Der Wiederaufbau der 5 zerstörten Brücken in unserer Gemeinde dauerte ebensoviele Jahre.



    Das liegt daran, dass Verbesserungen gewünscht und Alle Verantwortlichen, Land, Gemeinde, Obere und untere Wasserbehörde, Planer, zusammen arbeiten müssen.



    Und dann kostet eine Brücke im Schnitt eine Million.



    Das ist schon hier für eine kleine Gemeinde viel Geld.



    Wie soll beispielsweise in Lybien entsprechende Gelder erwirtschaftet und in sinnvolle Infrastrukturmaßnahmen gesteckt werden?



    Hinzu kommt, dass Lybien sich in einem Bürgerkrieg befindet, der vielleicht morgen wieder losbricht und entsprechende Maßnahmen zerstört.



    In diesem Zusammenhang erinnere ich an Infrastrukturmaßnahmen der EU im Westjordanland und deren Zerstörung.



    An der Ahr wurden mehr als 60 Brücken zerstört.



    Brückenbau ist ein Spezialgebiet für Architekten und Ingenieure sowie Baufirmen.



    Nach meinem obigen Beispiel ist nicht zu erwarten,dass diese in 1, 2 Jahrzehnten wieder aufgestellt sind.



    Auch wenn wir in der Lage sind, die Natur zu zerstören und das Klima negativ zu beeinflussen, das Gegenteil können wir nicht.

  • 4G
    48798 (Profil gelöscht)

    Niemand wollte wohl ernsthaft die humanitäre Katastrophe beschönigen, die zigtausende Libyer nun das Leben gekostet hat.



    Sicherlich spielen auch immer wieder Korruption und Behördenversagen eine wichtige Rolle.



    Das war ja auch schon bei anderen Dammbrüchen der Fall, obwohl da sogar der TÜV vorher kontrolliert hatte …



    Dies aber als westlicher Journalist nun mit dem Verweis auf den „failed state“ zu untermauern, der in dieser Form erst durch die (völkerrechtswidrige) Zerstörung des einstmals immerhin existenten Staatswesens durch Nato-Truppen entstand, ist doch ziemlich fehl am Platz.



    Lieber hätte man wohl fragen sollen, wo den die Hilfe der Amerikaner, Franzosen und Engländer war?



    Sie tragen schließlich in Libyen, wie auch in anderen Staaten, die Hauptschuld am Status Quo.



    Oder können sie nur zerstören, und aufbauen müssen dann andere?

    Wen wundert es da eigentlich noch wirklich, das die Afrikaner mit Europäern und Amerikanern nichts mehr zu tun haben wollen?

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    "Libyen mit oder ohne Gaddafi." ?



    Remember: "we came, we saw, he died..."



    www.youtube.com/watch?v=mlz3-OzcExI



    No brain no pain(e). Sie haben Irak vergessen.

  • Lob der Diplomatie

    Zitat: „Diplomatie kann Leben retten.“



    Ein löbliches Postulat, das auch für die anderen Katastrophen und Konflikte gilt, und zwar für alle, ausnahmslos alle...

  • Die Dämme wurden schon seit 2002 nicht mehr gewartet. Auf direkten Befehl des Führers des "funktionierenden" autoritären Staates. Um die notorisch unzufriedenen Menschen in Derna zu "bestrafen", indem man ihnen ein Damoklesschwert vor die Haustür hängt.

    Es gibt keine scharfe Grenze zwischen Kleptokratien/Autokratien/Plutokratien/Oligarchien und failed states, sondern es ist ein nahtloser Übergang. Die Grundannahme dieses Artikels, es gäbe die 2 trennbaren Kategorien "gefährlich/noch gefährlicher", die mit den trennbaren Kategorien "autoritärer Staat/failed state" zusammenfallen, ist evident falsch.



    Gehen Sie mal nach Aouzou im Tschad, und fragen Sie die Leute *dort*, was aus *ihrer* Sicht gefährlicher ist: Libyen mit oder ohne Gaddafi.



    Eins tun "failed states" nämlich nicht: sich hochrüsten, um mit 90.000 Soldaten ihr Nachbarland überfallen zu können.

    Russland als failed state, die Jahre um 1995, war auch übelst scheiße, *wenn* man dort wohnte und *wenn* man arm war - aber *global gesehen* war es so harmlos wie nie zuvor und nie seitdem.

    Oder Afghanistan. Ist nicht wirklich lange her, als sich die "freie Welt" vor Angst kollektiv einschiss, weil die Taliban in Kabul einritten und das Land wieder ein einigermaßen geordnetes Staatswesen bekam. Und es war keine grundlose Panik - Mädchenschulen waren in Afghanistan nur in *Abwesenheit* einer staatlichen Zentralgewalt möglich, QED. Weil der einzige verfügbare Kandidat für eine gesamtstaatliche Autorität "Frauen dumm und unmündig halten" ganz weit oben auf seiner Agenda hat.

    Was also bleibt von der These des Autors? Nicht viel: a) ein dysfunktionales Staatswesen - egal *warum* es dysfunktional ist - ist eine tödliche Bedrohung, und b) die von Neokonservativen/Neokolonialisten erfundenen Begrifflichkeiten und Kategorisierungen sind zur faktentreuen Erfassung der Realität unbrauchbar.

    Woooow, echt? Wahnsinn. Hättsch ja nich gedenkt.



    Tom Paine hat angerufen. Er will seine bahnbrechende Erkenntnis von 1776 wiederhaben.

  • 》Autoritäre Staaten bringen ihre Ein­woh­ne­r*in­nen in Gefahr. Noch gefährlicher aber sind gescheiterte Staaten wie Libyen《

    Wenn Sie das so allgemein formulieren, gehört auch die Politik des Westens gegenüber Russland unter diesem Aspekt auf den Prüfstand.

    Nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt hat Angela Merkel über Putin berichtet, dass sich erst (oder immerhin) mit dem Auftauen sibirischer Permafrostböden bei ihm so etwas wie ein beginnendes Bewusstsein für die Realität des menschgemachten Klimawandels eingestellt hat.

    Vor diesem Hintergrund hat die Vorstellung, das flächenmäßig größte Land der Erde könnte wie Libyen in Kämpfen zwischen rivalisierenden Warlords versinken, etwas Apokalyptisches (hinzu kommt ja noch das Atomwaffenarsenal).

    》Libyen als verloren zu akzeptieren, ist jedoch nicht die Lösung – auch deshalb nicht, weil es die Nato war, die 2011 mit Luftangriffen den Sturz von Diktator Gaddafi ermöglichte und mit dazu beitrug, dass das staatliche Machtmonopol zertrümmert wurde《

    Solch eine Verantwortung der Nato, des Westens insgesamt, wurde schon bei den 'Getreidedeals' mit der Ukraine und Russland, unter der Ägide der UN, sichtbar, und es sollte m.E. dringend diskutiert werden, ob "das wird Russland ruinieren" (A. Baerbock kurz nach Kriegsbeginn zu den Sanktionen gegen Russland) wirklich eine Maxime deutscher, westlicher Außenpolitik sein sollte.

    Oder nicht doch die kluge Überschrift hier wesentlich stärker Berücksichtigung finden sollte: "Diplomatie kann Leben retten"

  • Zitat: „Noch gefährlicher aber sind gescheiterte Staaten wie Libyen.“

    Diese Formulierung unterschlägt Ursachen und Hintzergründe: Libyen als Staat „wurde“ gescheitert, und zwar manu militari!

    • @Reinhardt Gutsche:

      Libyen war schon lange vor der UN Intervention gescheitert sonst hätte es keinen Bürgerkrieg geben, der Damm wurde unter Gaddafi auch nicht gewartet.