Karl-Markus Gauß über Ukrainekrieg: „Pazifismus im Dienst des Angreifers“

Der Schriftsteller Karl-Markus Gauß hat häufig die Ukraine bereist. Er fordert die sozialdemokratische Linke auf, sich von alten Annahmen zu lösen.

Erbitterter Widerstand: ein schweres Maschinengewehr, montiert auf einem Privatwagen in der Ukraine

Erbitterter Widerstand: ein schweres Maschinengewehr, montiert auf einem Privatwagen in der Ukraine Foto: Nacho Doce/reuters

taz am wochenende: Herr Gauß, Sie haben öfters die Ukraine bereist?

Karl-Markus Gauß: Zuerst habe ich den Osten und Süden kennengelernt. Insbesondere, als ich dort 2004 für mein Buch über die versprengten Deutschen („Die versprengten Deutschen. Unterwegs in Litauen, durch die Zips und am Schwarzen Meer“) recherchiert habe. Und die zumeist in eher bedrückenden Verhältnissen lebenden letzten Schwarzmeerdeutschen besucht habe.

Sie waren aber auch im Westen des Landes?

Später war ich ein paar Mal zu dieser ganz besonderen Buchmesse nach Lwiw eingeladen. Deren Veranstaltungen werden von den Einheimischen geradezu gestürmt. Und zuletzt war ich ganz im Westen der Ukraine unterwegs, in Transkarpatien, dem Grenzgebiet zu Polen, der Slowakei und Ungarn: Das ist eine idyllische Landschaft, die einst mit den ausgelöschten jüdischen Schtetln bestückt war und in der wenige Meter von der Landstraße entfernt Massengräber zu finden sind.

1954 in Salzburg geboren, ist Essayist, Reiseschriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“. Seine Reisen haben ihn an die Ränder Europas zu wenig bekannten Minderheiten geführt. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, auch ins Ukrainische. Von seinem 60. bis zum 65. Geburtstag hat er Tagebuch geführt, das er in dem jüngst erschienenen Buch „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ literarisch verarbeitet hat. Zsolnay Verlag, Wien 2022, 313 Seiten, 25 Euro.

Der Ukraine wurde früher häufig abgesprochen, über eine eigene nationale Identität zu verfügen. Was sagen Sie dazu?

Als ich die ersten Male die Ukraine bereiste, schienen auf dieser Identität vor allen die zu bestehen, die sich gegenüber Russland abheben wollten. Doch in den letzten Jahren hat sich in der Bevölkerung ein positiver Bezug, ein Staatspatriotismus herausgebildet. Der hat nichts Völkisches und schließt viele Nationalitäten mit ein. Die Ukraine ist ja tatsächlich ein Staat mit vielen verschiedenen Nationalitäten. Diese zählen teilweise jeweils mehrere hunderttausend Menschen, die sich allesamt mit der neuen Ukraine identifizieren. Das trifft übrigens auch auf die sehr vielen Menschen zu, die von ihrer Herkunft oder Muttersprache her russisch sind.

Hat es Sie überrascht, dass gerade die russischstämmigen Bewohner von Charkiv und Mariupol so erbitterten Widerstand gegen den Überfall der Russischen Föderation leisten?

Dass sie sich mehrheitlich nicht nach dem vermeintlichen Mutterland sehnen, konnte man wissen. Dass sich aber so viele so vehement gegen die zwangsweise Befreiung vom „ukrainischen Joch“ durch Putin wehren, ist dennoch erstaunlich. Es ist ein starkes Zeichen dafür, dass dieses Bewusstsein, der demokratischen Ukraine angehören zu wollen, eben keine nationalistische oder völkische Angelegenheit ist.

Der Schriftsteller Franzobel hat in Österreich eine Polemik ausgelöst, weil er meint, die Ukraine hätte sich den überlegenen russischen Truppen besser ergeben. Es lohne nicht, zu kämpfen.

Das teile ich nicht. Sollten die Ukrainer etwa um unseres Friedens willen darauf verzichten, für ihre Souveränität und Freiheit zu kämpfen? Natürlich wünsche auch ich mir, dass der Krieg möglichst schnell beendet werde. Aber ich hoffe dabei nicht, dass Putin sich als Sieger davonstehlen und als Aggressor sich seine territorialen Beutestücke sichern kann. Ein Frieden auf dieser Basis würde ohnedies schon auf den nächsten Krieg deuten.

Was ist mit Putins Behauptung, sich von Nato und Faschisten bedroht zu fühlen?

Wo sich die Faschisten hauptsächlich herumtreiben und von wo sie kommen, sieht man doch jetzt. Jedenfalls hat nicht die Ukraine Russland überfallen, sondern umgekehrt. Polen, Tschechien und die baltischen Staaten sind genau aus diesem Grund, um sich im Notfall verteidigen zu können, der Nato beigetreten. Der ukrainische Präsident Selenski fordert heute für sein Land wenigstens die EU-Mitgliedschaft, und zwar so schnell wie möglich.

Viele westeuropäische Politiker sprechen mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine von einer Zeitenwende.

Vieles von dem, was ich seit meiner Jugend gedacht und an dem ich grosso modo bis heute festgehalten habe, scheint durch die jetzige Realität widerlegt zu werden. „Frieden schaffen durch immer weniger Waffen“, das schien mir ein halbes Jahrhundert lang eine ganz selbstverständliche Sache. Der Kult des männlichen Helden galt als lächerlich, ein Überbleibsel aus düsterer Vorzeit. Doch die oft durchaus angebrachte Kritik an der Nato ging einher mit der Selbsttäuschung, dass Russland im Prinzip an keinerlei Krieg interessiert wäre. Wir erleben also eine Zeitenwende. Und wie könnten wir bei einer solchen nun den Ukrainern weiterhin jene Waffen verweigern, die sie benötigen würden, um sich besser verteidigen zu können? Das wäre ein Pazifismus im Dienste des Angreifers.

Herr Gauß, Sie wurden gerade in Leipzig mit dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrt. Lassen Sie uns hier auch über Ihr jüngstes Buch, „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“, sprechen. Es beruht auf Tagebucheintragungen, die Sie fünf Jahre lang notierten …

… von genau meinem 60. bis 65. Geburtstag.

Sie beschäftigen sich darin mit dem vom Putin-Regime angestifteten Aufstand im Donbass bis hin zum Ibiza-Video, also dem Skandal um die Käuflichkeit der rechtsextremen FPÖ in Österreich. Wenn man ein Tagebuch schreibt, beobachtet man da genauer?

Ob man genauer beobachtet, weiß ich nicht, aber ganz simpel gesagt: Man merkt sich mehr. Die Absicht, die Chronik der Welt zu schreiben, wäre vermessen. Vieles kommt in meinem Journal auch gar nicht vor, wie die Vorbeben auf den heutigen Krieg im Donbass und der Ukraine. Was ich täglich notiere, ein, zwei Seiten, ist denkbar heterogen. Politisches und Privates, Beobachtungen und Gedanken, Notizen zum Tag, Erinnerungen an vorgestern, Spekulationen auf morgen. Daraus komponiere ich nachträglich ein Buch, in dem ich meine kleine mit der großen Welt kreuze. Bei der literarischen Gestaltung nehme ich mir die literarischen Freiheiten, verboten soll nur sein, dass ich mich nachträglich klüger darstelle, als ich zum Zeitpunkt der ersten Niederschrift war.

Neben literarischen Bemerkungen und Alltagsaphorismen fielen mir auch Bemerkungen auf, wie etwa, dass die Dummheit demokratieschädigend sein könne und die Verlierer die Falschen wählen. Das könnte man auch für elitär halten?

Ich hoffe nicht. Der Abschnitt über die sozialen Verlierer richtet sich nicht gegen diese, sondern gegen jene, die sie verächtlich machen und ihnen die Schuld an allem geben wollen. Viele Linke meiner Jugendzeit, die eine oft eher abstrakte Sympathie für die Benachteiligten, die Verlierer empfanden, hegen heute eine sehr konkrete Verachtung für sie, weil diese Ressentiments und Vorurteile hegen und außerdem die Frechheit besitzen, die Falschen zu wählen.

Aber das ärgert Sie doch auch. Wie kann man auf sozial Schwächere zugehen, ohne paternalistisch zu wirken?

Sicher nicht mit pädagogischem oder kulturellem Dünkel, sondern eher doch auf ökonomischer und sozialer Ebene. Es ist eine oftmals traurige, aber simple Tatsache, dass die reale wirtschaftliche Situation der Menschen ihr Denken und Fühlen prägt und sie gegebenenfalls eben auch zum Schlechteren neigen lässt.

Immer wieder lese ich aus Ihren Bemerkungen ein Lob der bürgerlichen Tugenden heraus. Wird man im Alter schlicht konservativer?

Gute Frage. Lebensgeschichtlich betrachtet, war das Wort bürgerlich für meine Generation ein Schimpfwort. Es stand für engstirnig, spießig, obrigkeitsfromm. Aber bei meinen Reisen in vielen Ländern im Osten und Südosten Europas habe ich den Eindruck gewonnen, dass diesen Gesellschaften genau dieses abgeht. Nämlich ein gewisses Maß an bürgerlichen Formen und Haltungen, wie sie sich bei uns historisch herausbilden konnten. Und dieses Bürgerliche sollte nicht das Privateigentum des Bürgertums sein, sondern eine zivilisatorische Errungenschaft, auf die alle Anspruch haben sollten.

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