Kardinal Lehmann gestorben: Der liberale Katholik
Sein Herz pochte für Reformer, bei aller Scharfzüngigkeit hatte er Charme. Kardinal Lehmann wurde geliebt. Auch von unserem Autor.
Deshalb hier das Bekenntnis: Ich habe zu Kardinal Karl Lehmann, der nun in Mainz gestorben ist, nie „kritische Distanz“ gehalten, oder besser: fast nie. Ich konnte es nicht. Ich fand diesen Mann, sobald ich das erste Mal über ihn las und erst recht, sobald ich ihn das erste Mal interviewen konnte, schlicht großartig und liebenswert. Und er vertrat immer den Teil meiner Kirche, der lange, lange Jahre im Hintertreffen war, obwohl er, meiner Meinung nach, auf der richtigen Seite stand.
Kardinal Lehmann war über Jahrzehnte der wichtigste Mann der Kirche, der in Deutschland die Reformen und den Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils hoch hielt – vor allem gegen die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die wesentliche Früchte der großen Kirchenreform am liebsten auf kaltem Wege rückgängig machen wollten. Der Bischof von Mainz hielt mit seiner massigen Gestalt dagegen, blitzgescheit, scharfzüngig, aber konziliant im Ton. Man musste bei ihm zwischen den Zeilen lesen, auf die Zwischentöne seiner knarzigen Stimme hören. Dann dachte man sich: Wow! Was für ein mutiger Mann! Legt sich notfalls mit allen an, die Macht haben.
Wenn ich nun an ihn zurück denke, fällt mir als erstes das Interview ein, das ich mit ihm vor 18 Jahren für die taz führen durfte – denn es war im Grunde eine verrückte Idee und sagte viel über ihn: Bischof Lehmann (damals noch nicht zum Kardinal ernannt) war bereit, auf Vermittlung der taz hin mit der multireligiös-schwärmerischen Punk-Pop-Sängerin Nina Hagen über Glaubensdinge zu sprechen – bei edlem Gebäck im schicken Bischofshaus von Mainz.
Menschenfischer im besten Sinne des Wortes
Sie: wallend bunt gekleidet, irgendwie indisch oder so, mit viel Schminke und fettem Lippenstift auf ihrem riesigen Mund, er mit seinem dicken Bauch in schwarzem Hemd mit weißem Priesterkragen. Ich weiß gar nicht mehr genau, was die beiden eigentlich gesagt haben. Aber der respektvolle Ton im Umgang miteinander, die Heiterkeit und die Ernsthaftigkeit, mit der sie in diesem Glaubensgespräch voneinander lernen wollten, obwohl sie in Sachen Biographie und Umfeld fast nichts verband. Das hat mich stark beeindruckt, ja bewegt. So, dachte ich, muss Kirche sein: Sie muss mit allen reden, richtig zuhören, ohne sich zu verbiegen. Beschwingt fuhr ich zurück nach Berlin.
So ging mir das immer mit Kardinal Lehmann, jedes Mal, wenn ich ihn traf, beobachtete oder interviewen konnte. Denn diese Begegnungen und Gespräche hatten, auch wenn es nie darum ging, sondern immer um ein ernstes, meist aktuelles Thema, jedes Mal auch einen feinen spirituellen Unterton. Der war wahrscheinlich von Lehmann gar nicht intendiert, aber fehlte niemals – wie das eben so ist bei Menschenfischern im besten Sinne des Wortes.
Kardinal Lehmann
Mit seiner Lebensfreude, seinem immensen Charme und seinem Humor versinnbildlichte Lehmann zwanglos das Beste, was die katholische Kirche selten, sehr selten, aber eben doch manchmal noch zu vermitteln vermag: dass die uralte Botschaft Jesu auch nach 2.000 Jahren immer noch eine Botschaft der Freude und der Menschenfreundlichkeit ist. Gleich neben dem Bischofsdom von Mainz gibt es eine Bäckerei, die seit Jahren „Lehmännsche“, eine Art süßes Brötchen, wenn ich mich recht erinnere, verkauft. Ich glaube, es gibt für einen Bischof kaum eine größere Ehre und Bestätigung als diesen Ausweis neckender Zuneigung, ja Liebe.
Diese Liebe und Anerkennung hat sich Kardinal Lehmann sauer verdient, denn sein halbes Leben war ein Kampf. Angefangen hat es 1936 in Sigmaringen in ländlichen, recht einfachen, aber bildungsbürgerlich angehauchten Verhältnissen. Der hoch begabte Junge Karl brillierte in katholischen Schulen, wurde von Anfang an gefördert – und durfte schließlich an der römischen Kaderschmiede Germanicum Theologie studieren.
Kardinal Lehmann erlebte das Konzil der Jahre 1962 bis 1965, das die Kirche im großen und ganzen vom Mittelalter oder der Frühen Neuzeit in die Moderne katapultierte, als Assistent von Karl Rahner. Der katholische Jahrhundert-Theologe war peritus, also offizieller theologischer Berater des Zweiten Vatikanischen Konzils – und natürlich pochte Lehmanns Herz für Rahner und die Reformer. Dass die beim Konzil am Ende in fast allen Bereichen die Oberhand gewannen, war ein großes Glück für ihn und für die Kirche, vielleicht sogar für die ganze Welt. Denn die Kirche Roms ist mit ihren heute rund 1,2 Milliarden Mitgliedern die größte Glaubensgemeinschaft der Erde. Ein Lehrschreiben wie etwa „Laudato si“ von Papst Franziskus über globale Umweltfragen kann Weltpolitik mit gestalten.
Allerdings ging es Kardinal Lehmann wie so vielen Menschen, die früh in ihrem Leben etwas Neues, Großartiges und Bewegendes, ja atemberaubenden Fortschritt erleben: Wenn es Rückschritte gibt, wenn die Feinde dieser Zukunft alles zurück drehen wollen und damit oft auch Erfolg haben, dann wird es bitter. Spätestens seit 1978, der Wahl von Karol Wojtyla zum Papst Johannes Paul II., und bis zur Abdankung von dessen Nachfolger und engen Mitarbeiter Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) 2013, war Kardinal Lehmann in Rom in wichtigen Kreisen fast so etwas wie persona non grata.
In deren Augen war er eben der alte liberale Sack, der ihnen als Bischof von Mainz und Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz (von 1987 bis 2008) das Leben schwer machte. Fast schon biblische Ausmaße hatte etwa kurz vor der Jahrtausendwende das Ringen Kardinal Lehmanns zum Verbleib der katholischen Beratungsstellen im staatlichen System der Schwangerenkonfliktberatung. Papst Johannes Paul II. dekretierte: Aussteigen, sonst verblasst die reine Lehre der Kirche, dass wir Abtreibungen strikt ablehnen! Kardinal Lehmann dagegen argumentierte: Wir müssen drin bleiben, sonst erreichen wir nicht mehr die Frauen, die sich vielleicht doch für ihr Kind entscheiden! Aber Kardinal Lehmann beugte sich nach hartnäckigem Kampf doch der Order aus dem Vatikan. Er war eben bis zu seinem Lebensende auch dies: ein treuer Sohn seiner Kirche. Er konnte gar nichts anderes sein.
Kardinal Lehmann war ein großer Theologe – seine Publikationsliste als Professor der Theologie und auch später als Bischof von Mainz ist schier uferlos, seine Hausbibliothek ein Gesamtkunstwerk unfassbaren Ausmaßes. Wer je das Glück hatte, mit ihm an den Regalen mit seinen angeblich rund 100.000 Büchern entlang zu gehen, wobei Lehmann ab und zu mit sicherer Hand ein Werk heraus griff und kurz den Inhalt referierte, der wird das nicht vergessen. Am Ende war dieser Gang mit ihm mühsam, die Knie waren kaputt. Kardinal Lehmann hat seine Gesundheit seiner Mission geopfert, am Schreibtisch und am Altar. Oft Nächte lang.
Das Brodeln nicht gehört
Wie anfangs angekündigt: Das ist kein Nachruf der „kritischen Distanz“ – und er muss persönlich sein, alles andere ist belanglos. Kardinal Lehmann hatte natürlich auch seine Fehler und machte Fehler – so hat er beispielsweise das untergründige Brodeln des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche vor 2010, als alles ans Tageslicht kam, nicht gehört, wobei er damals auch nicht mehr Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz war. Seine Lebensbilanz aber ist so eindeutig positiv, dass es fast schäbig erscheint, noch mal alles zu erwähnen, was ihm nicht glückte und wo er irrte. Es war nicht sehr viel.
Das späte Glück des Kardinal Lehmann war es, am Ende seines Lebens noch zu erleben, wie Papst Franziskus wieder an das Konzil anknüpft – ja es um eine lateinamerikanische, globale Sicht des 21. Jahrhunderts erweitert. Auch dem jetzigen Papst glückt vieles nicht, auch er irrt in manchem. Aber die Richtung stimmt, und auch er wird, wie Lehmann, dafür geliebt. Das ist kein Zufall.
Vor knapp zwei Jahren hatte ich das letzte Mal die Möglichkeit, Kardinal Lehmann in seinem Bischofshaus zu interviewen. Es war wie immer anregend und heiter und schön. Und doch hatte ich die Ahnung: Es könnte das letzte Mal sein, so gebrechlich, wie er schon wirkte. Vor dem Interview hatte ich mir etwas irgendwie Verrücktes vorgenommen: Danach bitte ich ihn, mich zu segnen – darum habe ich noch nie jemanden gebeten. Aber ich Idiot habe mich am Ende nicht getraut. Ein kleines theologisches Buch hat er mir jedoch ein paar Monate später noch geschickt. In der Widmung steht „Gottes Segen!“ Das Buch liegt mir nahe am Herzen.
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