Kampf um Syrien: Regierungsfeindliche Kämpfer kreisen Hauptstadt ein
Die Rebellen-Offensive in Syrien kommt im Eiltempo voran. Regierungstruppen verlassen Aktivisten zufolge nun auch Posten nahe Damaskus.
Inhaltsverzeichnis
Die Regierungstruppen hätten sich aus dem Ort Artuz, etwa 15 Kilometer südwestlich von Damaskus, zurückgezogen, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit. Mehrere Dörfer in der Umgebung seien umzingelt. Ziel sei es unter anderem Inhaftierte aus einem Militärgefängnis nördlich von Damaskus zu befreien. Das Militär äußerte sich zunächst nicht zu diesen Angaben. Die Beobachtungsstelle mit Sitz in Großbritannien bezieht ihre Informationen von Informanten vor Ort.
Die Aufständischen hatten während ihrer Offensive bereits Hunderte Häftlinge aus einem zentralen Gefängnis in der Stadt Hama befreit.
Drusen-Milizen: Militärbasen in Suweida erobert
In der südsyrischen Provinz Suweida haben Drusen-Milizen Insidern zufolge die meisten Stützpunkte der Regierungstruppen unter ihre Kontrolle gebracht. Nur eine Luftwaffenbasis nördlich der Provinzhauptstadt Suweida sei noch in der Hand des syrischen Militärs, verlautet aus Kreisen der Drusen-Milizen.
Im Hauptquartier der militärischen Spezialkräfte in der Stadt Suweida desertierten Soldaten in großer Zahl. Hunderte versteckten sich in Gemeindehäusern. Die Drusen sind eine der zahlreichen Bevölkerungsgruppen in Syrien, viele von ihnen leben im Gebiet um Suweida.
Die syrische Staatsagentur Sana bestätigte unter Berufung auf das Militär dessen Rückzug aus Suweida und vermeldete auch, dass Assads Armee die Stadt Daraa aufgegeben habe. Die Regierungstruppen würden sich neu positionieren, nachdem „terroristische Elemente“ Kontrollpunkte der Armee angegriffen hätten.
Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte steht die Provinz Daraa mittlerweile vollständig unter der Kontrolle von lokalen Oppositionskräften.
Die Stadt Daraa hat eine besondere Rolle im syrischen Bürgerkrieg gespielt. Dort brachen im März 2011 die ersten Proteste aus. Sie wurden durch die Verhaftung Jugendlicher ausgelöst, die regierungskritische Graffiti an die Wände ihrer Schule gesprüht hatten. Sicherheitskräfte gingen mit großer Gewalt gegen die Proteste vor. Die Gewaltspirale mündete letztendlich in einen Bürgerkrieg mit internationaler Beteiligung.
Aufständische: Auch in Homs aktiv
Die Aufständischen sind nach eigenen Angaben bereits auch in der strategisch wichtigen Stadt Homs im Einsatz. In einer Mitteilung der islamistischen Gruppe HTS hieß es, Kräfte, die hinter den feindlichen Linien stationiert seien, hätten mit „Spezialoperationen“ im Stadtgebiet begonnen. Gleichzeitig gebe es einen massiven Angriff von mehreren Seiten.
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte bestätigte, dass es in Homs zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt. Die in Großbritannien ansässige Organisation stützt sich auf ein Netz von Informanten im ganzen Land.
Das syrische Militär warnte unterdessen vor angeblich falschen Nachrichten über die Einnahme von Gebieten im Umland von Damaskus und anderer Städte wie Homs durch die Rebellen. Demnach stellten terroristische Schläferzellen Videos von Straßen und Plätzen ins Internet, um den Eindruck zu erwecken, sie hätten dort die Kontrolle übernommen.
Laut der Beobachtungsstelle seien Regierungstruppen weiterhin im Umland der drittgrößten Stadt Syriens stationiert und griffen von dort Stellungen der Rebellen an, hieß es. Die Truppen seien massiv verstärkt worden.
Sana berichtete, dass die syrischen Streitkräfte nordöstlich von Homs und auch in der Umgebung von Hama Versorgungslinien der Aufständischen mit Artillerie und Raketen angriffen. Es gebe auch koordinierte Angriffe mit der russischen Luftwaffe.
Israel schickt mehr Soldaten an Grenze zu Syrien
Die israelische Armee (IDF) verstärkt angesichts des Vormarsches syrischer Rebellen auch in unmittelbarer Nähe der Grenze zu Israel seine Truppen auf den Golanhöhen. „Entsprechend der Lagebeurteilung beruft die IDF zusätzliche Kräfte für Verteidigungsaufgaben in der Region der Golanhöhen an der israelisch-syrischen Grenze ein“, teilte die Armee auf Telegram mit. Angaben zum Umfang der Verstärkungen machte die Armee auch auf Anfrage hin zunächst nicht. Es war bereits die zweite Ankündigung dieser Art binnen 24 Stunden.
Israel reagierte damit auf den Rückzug des syrischen Militärs aus Daraa und Suweida im Südwesten Syriens. Die beiden Städte liegen nur wenige Kilometer östlich der Golanhöhen, die Israel im Sechstagekrieg 1967 erobert und 1981 annektiert hat. International wird dies von vielen Staaten nicht anerkannt.
Iran dementiert Evakuierung von Diplomaten
Der Iran hat Berichte als falsch zurückgewiesen, wonach Diplomaten bereits aus Syrien abgezogen worden seien. Die Botschaft in Damaskus werde operativ bleiben und ihre Arbeit wie gewohnt fortsetzen, sagte Außenamtssprecher Ismail Baghai laut Internetportal Iran Nuances.
Die New York Times hatte berichtet, dass iranische Diplomaten und Militärberater Syrien verlassen hätten. Einige seien nach Teheran geflogen, andere auf dem Landweg in den Libanon, in den Irak oder zum syrischen Hafen Latakia gebracht worden. Der Außenamtssprecher hatte letzte Woche gesagt, dass die iranischen Diplomaten und Militärs in Syrien blieben und Staatschef Baschar al-Assad bis zum Ende unterstützten.
Die Aussagen Baghais stießen in Teheran auf Skepsis. Demnach gehen Beobachter davon aus, dass eine Evakuierung der Diplomaten bereits abgeschlossen sei. Erinnert wird dabei an einen Vorfall 1998 in Masar-i-Scharif in Afghanistan. Damals verblieben nach dem Vormarsch der Taliban die iranischen Diplomaten vor Ort. Zehn von ihnen sowie ein iranischer Reporter wurden nach einem Angriff der Taliban von den Islamisten ermordet.
In sozialen Medien wird spekuliert, dass der Iran den syrischen Staatschef Al-Assad bereits aufgegeben habe. Der staatliche Nachrichtensender IRIB, das Sprachrohr des iranischen Systems, bezeichnet seit Freitagabend die islamistischen Aufständischen in Syrien nicht mehr als „Terroristen“, sondern als „bewaffnete Widerstandsgruppen“. Beobachter sehen darin ein erstes Anzeichen, dass der Iran den Sturz Al-Assads bereits einkalkuliert habe und nun versuche, Kontakt zu den Aufständischen aufzunehmen.
Außenminister Abbas Araghtschi äußerte sich eher spirituell zu Al-Assads Schicksal. „Es ist jetzt alles in Gottes Händen“, so der iranische Chefdiplomat in einem Interview mit dem arabischen TV-Sender Al Sharqiya.
Ende November war der syrische Bürgerkrieg mit der Offensive der IAllianz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) plötzlich wieder aufgeflammt. In kürzester Zeit nahm die Gruppe viele Gebiete teils kampflos ein, unter anderem auch Aleppo, die zweitgrößte Stadt des Landes. Ihr Ziel ist der Sturz der Regierung von Präsident Baschar al-Assad.
UN-Bericht: Systematische Folter in Syriens Gefängnissen
In Syriens Gefängnissen werden Insassen nicht nur systematisch gefoltert, sondern ihnen werden auch schwere körperliche und seelische Schäden zugefügt. Dies geht aus einem Bericht von Experten der Vereinten Nationen hervor, in dem Aussagen von mehr als 300 ehemaligen Insassen ausgewertet wurden. Die Ungewissheit über den Verbleib und den Zustand von inhaftierten Familienangehörigen sei traumatisch für die betroffenen Familien, hieß es weiter.
Bereits Minderjährige wurden demnach festgenommen und in dunklen, von Insekten und Nagetieren befallenen Zellen in Einzelhaft festgehalten. Ein Minderjähriger habe angegeben, zwei Tage lange mit einer verwesenden Leiche in einer Zelle eingesperrt gewesen zu sein. Sowohl männliche als auch weibliche Insassen sagten aus, dass sie gezwungen worden seien, sich nackt auszuziehen.
Männliche Befragte gaben an, dass man auf ihre Genitalien eingeschlagen und sie mit Elektroschocks misshandelt habe. Kinder seien gezwungen worden, die Folter ihrer Eltern mitanzusehen, hieß es in dem Bericht, der sich auf einen Zeitraum von 2011 bis 2022 bezieht.
Lawrow will nicht über Zukunft von Assad spekulieren
Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat es abgelehnt, eine Prognose zur Zukunft der syrischen Regierung abzugeben. Lawrow sagte am Samstag in Katar, er habe seine Kollegen aus der Türkei und dem Iran getroffen. Alle drei Länder hätten ein sofortiges Ende der feindlichen Aktivitäten in Syrien gefordert.
Auf dem jährlichen Doha-Forum sagte Lawrow, Russland unterstütze das syrische Militär mit Luftangriffen weiterhin bei der Bekämpfung der Aufständischen. Auf die Frage, ob die Herrschaft von Präsident Baschar al-Assad durch die schnell voranschreitende Offensive der Rebellen bedroht sei, sagte er: „Es ist nicht unsere Aufgabe, zu erraten, was passieren wird.“ Der Minister machte die Vereinigten Staaten und den Westen für die Ereignisse in Syrien verantwortlich und sagte: „Es tut uns sehr leid für das syrische Volk, das Gegenstand eines weiteren geopolitischen Experiments geworden ist.“
Russland und der Iran sind die wichtigsten Unterstützer der syrischen Regierung. Die Türkei unterstützt dagegen Kämpfer der Opposition, die versucht, Assad zu entmachten. „Wir tun alles, was wir können, damit Terroristen nicht die Oberhand gewinnen, auch wenn sie sagen, dass sie keine Terroristen sind“, sagte Lawrow. Er bezog sich dabei auf den De-facto-Anführer der syrischen Aufständischen, Abu Mohammed al-Golani, der nach eigenen Angaben keine Verbindungen zur Terrorgruppe Al-Kaida hat. Seine Gruppe Hajat Tahrir al Scham wird von den USA und den Vereinten Nationen als terroristische Organisation eingestuft.
Lawrow sagte, Russland, der Iran und die Türkei verlangten die vollständige Umsetzung einer UN-Resolution, in der ein Fahrplan für den Frieden in Syrien gebilligt wurde. Die Resolution 2254 wurde im Dezember 2015 einstimmig angenommen. Darin wird ein von Syrien geführter politischer Prozess gefordert, der mit der Einsetzung einer Übergangsregierung beginnt, gefolgt von der Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Danach sollen Wahlen unter Aufsicht der Vereinten Nationen stattfinden.
Der russische Außenminister wies Berichte zurück, wonach Moskau Schiffe von einem russischen Stützpunkt in der syrischen Hafenstadt Tartus abgezogen habe. Die Schiffe seien zu Marineübungen im Mittelmeer aufgebrochen, sagte er.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken