Kampf gegen Corona: Ein durchregiertes Land
Die Coronamaßnahmen sind ein Problem für die Demokratie und verhindern gesellschaftliche Resilienz.
A ls im März 2020 mit der Anordnung des ersten deutschlandweiten Lockdowns die „Stunde der Exekutive“ schlug, war es kaum vorstellbar, dass daraus das Jahr der Exekutive werden würde. Mit dem am 27. März in Kraft getretenen Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite erlaubte es der Bundestag der Regierung, ohne Zustimmung des Bundesrates mit bundesweiter Gültigkeit Anordnungen zur Eindämmung der Pandemie zu treffen. Sieben Monate, unzählige Verordnungen und einen Lockdown später kann von einer „Außerordentlichkeit“ der Machtaggregation keine Rede mehr sein. Regieren per Dekret ist im Jahr 2020 zu einem bedenklichen Normalzustand geworden.
Problematisch dabei ist erstens: Demokratische Politik wird legitimiert, indem Ideen in mehrstufigen Verfahren diskutiert, aggregiert und in den politischen Prozess gegeben werden. Dieser Input-Dimension demokratischer Legitimität steht die Output-Dimension gegenüber, denn legitimes Regieren basiert auch auf der Lösung von Problemen – Politik muss „liefern“. In Notsituationen kann die Output-Dimension die Input-Seite überlagern, um effektiv eine unmittelbare Gefahr abzuwehren. Mittel- und langfristige Legitimation muss vorrangig durch die Input-Seite, also durch Debatte, Streit und Interessenabwägung hergestellt werden.
Wie mühsam die (Rück-)Verlagerung der Legitimation von der Ergebnis- zur Einflussseite ist, zeigt sich in allen autoritären Systemen der Welt: Rentenerhöhungen vor Wahlen etwa sind ein typisches Mittel, um Zustimmung zur Übermacht der Output-Seite zu gewinnen und die Input-Seite als irrelevant darzustellen.
Die zweite Frage ist die der Qualität der politischen Debatte und damit der politischen Inklusivität. Demokratie ist nicht nur ein politisches System, sondern in der Lebenswelt der Menschen tief verankert und basiert auf partizipativen und wechselseitig verbindlichen Konsultationen von Regierenden und Regierten. Je inklusiver diese Konsultationen und Verflechtungen sind, umso demokratischer ist ein System – und umgekehrt.
Gefahr der Entfremdung
Indem in der Coronapolitik auf angemessene Parlamentsdebatten sowie auf zivilgesellschaftliche Mitsprache verzichtet wird, vergibt die Exekutive eine wichtige Chance der Input-Legitimation und dünnt Netzwerke der verbindlichen Konsultation bedenklich aus. Gesellschaftlicher Zusammenhalt als Unterbau der Pandemiebekämpfung ist gerade jetzt notwendig, aber die debattenarme Politik befördert Entflechtung und Entfremdung zwischen Gesellschaft und Politik.
Das dritte Problem ist der Fokus auf Bewältigung statt Veränderung. Im Frühjahr war häufig zu lesen, dass die Krise die Gesellschaft stärker, widerstandsfähiger machen könnte. Das Zauberwort der Resilienz tauchte auf wie eine Hoffnung auf eine positive Wende. Soziale oder gesellschaftliche Resilienz gilt als die Fähigkeit von Kollektiven, Schocks und Krisen zu bewältigen, sich an potenzielle Störungen anzupassen und langfristig Veränderungen umzusetzen, die das Schadenspotenzial von Krisen vermindern und die soziale Gruppe stärken. Resilienz ist also weit mehr als nur Krisenmanagement.
Die Coronamaßnahmen zielen bislang auf die Bewältigung der Krise ab, aber zusätzliche Intensivbetten und Überbrückungshilfen sind kaum nachhaltig. Stattdessen wäre ein Fokus auf den zweiten und dritten Aspekt von Resilienz, nämlich Anpassung und Transformation, notwendig. Dafür braucht es Ressourcen und ein Konzept, das die Frage beantwortet, welche Funktionen der Daseinsvorsorge auf welche Weise gefährdet sind. Die genaue Identifikation dessen, was gefährdet ist, ist der Kern eines politischen Resilienzkonzeptes.
Wie könnte also eine demokratisch inklusive Politik in Bezug auf die Pandemie aussehen? Als erstes gehören Diskussion und darauf aufbauende Entscheidungen zurück in den Raum der Legislative: Erst wenn in den Parlamenten Argumente und Gegenargumente, Sonderfälle und Probleme diskutiert wurden, können Maßnahmen mit der Tragweite von Grundrechtseinschränkungen umgesetzt werden. Die Exekutive braucht einen Spielraum für kurzfristige Reaktionen auf steigende Infektionszahlen oder Engpässe in der Gesundheitsversorgung, aber die grundlegende Ausrichtung der Maßnahmen muss im Parlament diskutiert und nicht erst nachträglich gebilligt werden.
Mehr zivilgesellschaftliche Kontrolle
Zweitens bedarf eine Politik im Krisenmodus nicht weniger, sondern mehr zivilgesellschaftlicher Beteiligung. Auf dezentraler Ebene der Bundesländer, Kreise und Städte könnten Corona-Bürgerräte die Maßnahmen im lokalspezifischen Kontext diskutieren und Verbesserungsvorschläge unterbreiten.
Drittens muss langfristiger Wandel auf nationaler Ebene durch einen Bürgerrat angeschoben werden, dessen Funktion gesetzlich fixiert ist und dessen Mitglieder ausgelost werden. Ein Bürgerrat zur resilienten Gesellschaft hätte die Möglichkeit, jene Probleme zusammenzudenken, welche die größten Herausforderungen der nächsten Jahre darstellen: Klima, Pandemie, und Polarisierung der Gesellschaft sind nur einige der Themen, die einer nachhaltigen Antwort bedürfen.
Die aktuelle Krise wird nicht zu mehr Resilienz führen, und sie kann die gesellschaftliche Spaltung noch vertiefen, wenn der anhaltende Verordnungsmodus der Exekutive das Geflecht gesellschaftlicher Bindungen weiter ausdünnt. Ein nachhaltiger Umgang mit der Krise braucht das genaue Gegenteil: gesellschaftliche Integration durch Verflechtung; breite, kontroverse Debatte; komplexe Verhandlungen und die Repräsentation der Vielfalt der Lebensrealitäten in den Entscheidungen. Das ist weniger effizient als zügiges Durchregieren, und es ist anstrengend. Aber es ist der Weg zur Aufrechterhaltung der Demokratie und zu gesellschaftlicher Resilienz.
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