Diskurs in der Pandemie: Zeit für Radikalität
Nach einem Jahr Pandemie brauchen wir wieder eine Sprache, die Widersprüche zulässt. Und wir brauchen Streit über verschiedene Formen der Freiheit.
E in Jahr Pandemie bedeutet auch ein Jahr Sprachlosigkeit. Am Anfang, im Februar, März 2020, war es für viele vielleicht noch die Scheu vor der eigenen Unwissenheit, das Staunen über die Katastrophe, das Spektakel gesellschaftlicher Selbstverpuppung. Was sich damals aber etablierte, war die Sprache des Vollzugs aufseiten der Politik und das Schweigen so vieler anderer Stimmen, die fehlten und fehlen, um die Dimensionen der Pandemie angemessen auszumessen. Die Folgen nun sind gravierend und bleibend, fürchte ich, weil die Verkümmerung der Sprache mit der Verkümmerung des Denkens und Handelns verbunden ist, was wiederum die Möglichkeitsräume einer Gesellschaft extrem einengt.
Was die Mitte angeht, könnte man sagen, ist das wenig überraschend, denn die ersten beiden Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts waren, in der Folge der Anschläge vom 11. September 2001, eh schon geprägt von einem Übermaß an Sicherheitsroutine, Vollzugsdenken, Exekutivaktion – eine Schwächung der parlamentarischen und diskursiven Aspekte von Gesellschaft, die sich in dieser Pandemie besonders deutlich zeigt. Es fehlen die Momente gemeinsamer Versicherung, was zu tun ist, was die Möglichkeiten und Alternativen sind – in gewisser Weise zeigt sich hier die Mutation einer bestimmten Ausprägung von neoliberaler Doktrin, die das Postulat der Alternativlosigkeit als Vorwand der Abschaffung von Politik nutzte.
So also, und nicht anders. Da ist es dann auch egal, dass nach einem Jahr Pandemie die Schulen immer noch auf dem Stand von 1985 sind, plus Teams oder Itslearning. Da ist es egal, dass die Rede über das Leben auf biologische oder ökonomische Aspekte schrumpft. Da ist es egal, dass eine planlose Hü-und-hott-Politik eine Legitimationskrise des demokratischen Systems bewirkt. Da ist es egal, dass immer noch so schleppend geimpft wird, dass die Kultur krankt, dass die Menschen kranken, dass die Energie und die Empathie aus der Gesellschaft verschwinden. Es geschieht, was geschehen muss.
Was verloren geht, sind ein paar grundsätzliche Erkenntnisse: Wissenschaft etwa ist eine Methode, kein Ergebnis – „listen to the science“ macht also nur bis zu einem gewissen Grad Sinn, die Diskussion über virologisch notwendige Maßnahmen findet in einem Feld von Erkenntnissen statt, die sich konstant neu formen. Dieser Zweifel, diese Skepsis, diese Erkenntnisoffenheit ist wesentlich für Wissenschaft – sie steht der Kommunikations- und Handlungslogik der Politik entgegen und auch der Logik der Medien, die Richtung, Helden und Geschichten suchen, die einen Anfang und ein Ende haben.
Georg Diez
taz-Kolumnist und Chefredakteur von „The New Institute“. Gerade ist sein Buch „Blogdown. Notizen zur Krise“ mit Zeichnungen von Philip Grözinger im Frohmann Verlag erschienen.
Die Wirklichkeit aber lässt sich nicht so sortieren – hier gerät der kommunikativ-politische Komplex an seine Grenzen, hier wäre der Ort für eine Sprache, die die Widersprüche nicht nur aushält, sondern formuliert, fordert, zu Tage fördert, eine Sprache, die Raum gibt für Schmerz und Sehnsucht, für Angst und Verlust, für Hoffnung aber auch und für die Schönheit, die doch nicht verschwunden ist, einfach so.
Aber wo findet diese Sprache statt, jenseits des Vermeldens? Wo findet die Debatte statt über die Erfahrungen, Veränderungen, das Leben jenseits von Tod und Verboten? Wo ist die Reflexion über grundlegende Ideen dieser Gesellschaft, die so lange im Schatten waren? Ein Entwurf von Gerechtigkeit, der aus dem Zwang der Pandemie eine Vision schafft für eine Gesellschaft, die nicht schlechter ist als vorher, sondern besser? Wo ist der Streit über die verschiedenen Formen von Freiheit, ein Begriff, der so lange reduziert wurde auf einen abstrakten, von historischen oder sozialen Gegebenheiten befreiten Kern – könnte nicht Freiheit, wie der Verfassungsrechtler Christoph Möllers es formuliert, sehr viel kollektiver gedacht werden und damit inklusiver und gerechter?
Wo ist also, um es konkret zu sagen, jenseits einer anderen Sprache, Durchlässigkeit, Weichheit eine dezidiert linke Position, die über die Frage von Lockdown: Ja, nein, kurz, lang, hart, nicht hart hinausgeht? Eine Position, die die Herausforderungen für Aspekte von Gerechtigkeit konstruktiv angeht, die eine Veränderungsoption für andere Formen von Marktlogik sieht, die andere Prioritäten genau in diesem Moment vertritt, die offen ist für Technologie und technologisches Denken, wie es etwa Audrey Tang in Taiwan aufzeigt, die zentral die Diskussion führt, die die Linke vor so langer Zeit aufgegeben hat, die Diskussion eben über diesen Begriff von Freiheit, die in der Pandemie besonders neu gedacht und gedeutet werden kann.
Denn die Freiheit verbindet sich eben, das zeigt die Pandemie, nicht nur mit Verantwortung – etwa anderen Menschen, anderen Generationen, zukünftigen Generationen gegenüber; mit Kausalität – was zum Beispiel die Verbindung von Klimawandel und Corona angeht; mit Einschränkungen – denn ohne diese Einschränkungen und Veränderungen, radikal und grundsätzlich, wird sich Freiheit als allgemeines Prinzip kaum umsetzen lassen. Diese Einsicht verbindet die Coronasituation auch mit der Klimadebatte, die nicht im Kern, aber doch wesentlich auch eine Freiheitsdebatte ist.
Die Pandemie ist, wie es auch die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 war, eine Gelegenheit, konkret utopisch zu denken – einfach, weil die Radikalität der Fragen eine Radikalität der Antworten ermöglicht, ja eigentlich erzwingt. Sehr oft hört man nun: Es gibt keine Rückkehr zur Normalität, also die Zeit vor der Pandemie. Gut! Gut in Vielem, weil Corona ja genau die Schwachpunkte aufgezeigt hat, an denen die Gesellschaft schon vorher, unter „normalen“ Bedingungen litt. Es wäre fatal, wenn diese Chance zum grundsätzlichen Neudenken vergeben würde – und es sind die Parteien der Veränderung, also nominell die linken Parteien, wo sich emanzipatorische Solidarität und verantwortungsvoller Freiheitssinn mit innovativem Denken und Handeln verbindet, die diesen Druck aufbauen müssten.
Aber welche Parteien sind das nochmal?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?