Kalorien und Wein: Erst der Crémant, dann die Reue
Auf den Etiketten von Weinflaschen könnte bald nicht nur vor Alkoholabhängigkeit gewarnt werden, sondern auch vor zu vielen Kalorien.
D er Weihnachtsmarkt ist eröffnet: Pfefferkuchen, Stollen, Gänsekeulen. Und natürlich: Glühwein, Eierpunsch, Lumumba. Es ist großartig: Erst ein fetter Braten, danach ein Schnaps, am besten erhitzt. Wenn das Getränk den ohnehin schon vollen Magen zusätzlich abdichtet, möchte man sich am liebsten sofort aufs Sofa packen. Liegt man dort aber erst einmal, legt sich das schlechte Gewissen gleich daneben: Na, mal wieder über die Stränge geschlagen? Morgen besser nicht auf die Waage steigen, ne? Die nächsten Tage ausschließlich Gemüse – und vor allem: No Alkohol!
Vorsätze, die sowieso nicht lange halten. Spätestens, wenn … na, Sie wissen schon, wählen Sie Ihre Ausrede einfach selbst. Dabei ist das mit einer strengen (und von mir aus auch längeren) Alkoholabstinenz vielleicht doch nicht ganz so verkehrt. Wegen der Fitness, des Images, des Termindrucks. Was einem heute so abverlangt wird.
In der besten aller Welten wäre es egal, ob jemand infolge eines gelungenen Vollrauschs am nächsten Tag nicht zum Frühdienst erscheint. Straßenbahn fällt aus, Bäcker noch dicht, auf taz.de keine neuen Texte – scheißegal, geht der Tag eben später los. Alle freuen sich über eine überraschende Pause. Aber so läuft das heute bekanntlich nicht. In unserer Alles-muss-immer-und-sofort-verfügbar-sein-Welt, die sich mit dem Wenn-du-versagst-biste-raus-Planeten koppelt, muss man 24/7 den Computer vor der Nase, das Handy am Ohr und die Laufschuhe neben dem Bett haben. Es wimmelt nur so von Performer:innen, Weltverbesser:innen, Selbstoptimierer:innen.
Da scheint es folgerichtig, dass nicht nur auf Zigarettenschachteln gewarnt wird: „Raucher sterben früher.“ Sondern demnächst auch auf Wein-, Sekt- und Schnapsflaschen. Bald könnten auf den Etiketten Sätze stehen wie: „Trinken schadet Ihrer Leber.“ „Alkohol kann Ihr Ungeborenes töten.“ „Alkohol macht doof.“ In Frankreich, wo Rotwein zum Essen traditionell dazu gehört, ist das bereits seit 2007 Pflicht. Auf Weinen werden Schwangere darauf hingewiesen, dass sie die Flasche lieber nicht in den Einaufskorb packen, entweder mit einem durchgestrichenen Symbol einer Schwangeren, die ein Weinglas in der Hand hält, oder mit einem entsprechenden Satz.
Achtung: Am Ende schlägt die Waage aus
Dagegen ist gar nichts zu sagen, im Gegenteil, das ist sehr sinnvoll. Alkohol und Tabak haben im Körper von Schwangeren nichts zu suchen. Weiß man eigentlich. Aber muss ich mich, die weder schwanger noch suchtgefährdet ist, sondern nur auf einen süffisanten Samstagabendgenuss aus ist, von einer Flasche Crémant d'Alsace anbrummen lassen: Achtung, wenn du mich trinkst, wirst das sicher ein lustiger Abend, am Ende schlägt de Waage unfreundlich aus! Denn neben dem Alkoholgehalt muss das Etikett bald auch die Kalorienmenge ausweisen. Die Europäische Union bastelt seit geraumer Zeit an Formulierungen, so was wie: 100 ml enthalten 356 Kilojoule oder Kalorien 85 Kilokalorien, 0 Gramm Protein, 2,5 Gramm Kohlenhydrate und 0 Gramm Fett.
Das Etikett auf der Schampusflasche – der Porsche der Lebensmittelampel.
Ich würde gern wissen, wer genau im Brüsseler Parlament daran arbeitet. Ich vermute, es sind Männer, die allmorgendlich, bevor sie in den heiligen EU-Hallen in der Rue Wirtz verschwinden, durch den Parc de Bruxelles joggen, nach dem Dienst Hanteln stemmen und am Wochenende im EU-eigenen Fitnessstudio ihr Six Pack performen. „Achtsamkeitsarbeit“ nennt die Psychologin Ramani Durvasula die totale Kontrolle über den eigenen Körper. Und die betreiben, das sagt US-Amerikanerin auch, insbesondere narzisstische Menschen.
Narzissten halten sich voller Überzeugung für die Allergeilsten. Sie glauben, sie sind die Einzigen, die es drauf haben, alle anderen sind Luschen. Das lassen sie andere natürlich ständig spüren: Man tut einfach so, als ob man die Kollegin, die neben einem steht und eine rasche Minifrage hat, gar nicht gesehen hat. Man quatscht dauernd dazwischen, vor allem in öffentlichen Runden. Volle Breitseite Abwertung.
Das hat einen beängstigenden Grund: Narzissten sind im tiefsten Inneren alles andere als coole Säue, sondern mit wenig Selbstwertgefühl ausgestattet und auf jede noch so kleinste Anerkennung von außen angewiesen. Den Kampf, den Narzissten ständig mit sich selbst ausfechten, können sie nie gewinnen. Was bleibt also? Andere vorführen – oder Etiketten auf Weinflaschen drucken.
Liebe EU-Etiketten-Bastler:innen, trinkt doch einfach mal ein großes Leffe und esst dazu einen Salat Liégeoise, wenn es nicht die obligatorischen belgischen Fritten sein sollen. Ihr werdet sehen, danach fühlt Ihr Euch frei, leicht und locker. Am Abend könnt Ihr ja trotzdem zu euren Hanteln greifen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner